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Berlin: Zwei Jahrzehnte Zwang

Sie lief von zu Hause weg – eine Schande für die Eltern. Mit 19 wurde Rahile Ajlan verheiratet. Viermal beantragte sie die Scheidung in der Türkei. Jetzt, mit 43, führt sie ein selbstbestimmtes Leben

An den angeblich „schönsten Tag im Leben einer Frau“ möchte Rahile Ajlan nicht erinnert werden. Die meisten ihrer Hochzeitsfotos hat sie in Kisten im Keller verschwinden lassen, das Hochzeitskleid in den Müll gestopft, den Ring noch während der Ehe aus dem Fenster geworfen. Sie wollte diese Ehe nie. Ihrem türkischen Mann hat sie das im Streit oft vorgehalten. Ihn hatte nie gestört, dass seine Verbindung mit einem 19-jährigen Mädchen aus der Türkei eine Zwangsehe war. 20 Jahre dauerte sie, ehe es zur Scheidung kam. „Jetzt erst bin ich zufrieden mit meinem Leben", sagt die 43-jährige Rahile, Mutter von drei Kindern.

Sie hat nun bald einen Beruf, beendet ihre Ausbildung zur Altenpflegerin. Vor zwei Jahren ist sie mit den Kindern – 15, 17 und 20 Jahre alt – an den Rand Berlins gezogen, weil sie nicht nur Ruhe, sondern auch die Anonymität suchte. „Ich wollte weg von den traditionellen türkischen Kreisen“, sagt Rahile. Ihr Name steht nicht mehr im Telefonbuch. Ihre Kinder achten darauf, wem sie die neue Adresse geben. An den Psychoterror nach der Scheidung erinnern sie sich alle nur zu gut. Am Telefon meldeten sich unbekannte türkische Männer und machten der Mutter eindeutige Angebote. Fast im Minutentakt kamen SMS an, in denen sie als „Hure“ beschimpft wurde. Ab und zu tauchte der verlassene Ehemann vor dem Haus auf.

Auf den wenigen Fotos von der standesamtlichen Trauung im türkischen Konsulat, die Rahile auf die Schnelle finden kann, strahlt ihr Mann. Die junge Frau neben ihm schaut meist mürrisch. „Sieht so eine glückliche Braut aus?“, fragt Rahile Ajlan. Noch heute bereut sie, dass sie sich nicht zur Wehr gesetzt hat. „Ich hätte es rausschreien müssen, dass ich ihn nicht will.“

Ihre Mutter arbeitete in derselben Fabrik wie der Onkel ihres zukünftigen Ehemannes. Der Onkel hatte seinen 19-jährigen Neffen kurz vor dem Militärputsch 1981 mit einem Touristenvisum nach Berlin geholt, weil in der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Nun suchte er für ihn eine Frau, damit der Neffe nicht zurückgehen musste. Ihr Vater hatte Rahile 1970 zusammen mit der Mutter nach Berlin geholt, da war sie neun Jahre alt. Er gab einem deutschen Lehrer 200 Mark im Monat, damit er der Kleinen am Nachmittag Deutsch beibrachte. Drei Jahre später bekam Rahile, Kind türkischer Gastarbeiter, die ersehnte Empfehlung fürs Gymnasium. Doch zu Hause litt sie. Auf die Klassenreise nach Frankreich durfte sie nicht mit. Die Eltern befürchteten das Schlimmste. Homepages von „islamischen Gemeinden“ im Internet warnen türkische Eltern. „Es wird Alkohol getrunken, die ersten Zigaretten werden geraucht, Erfahrungen mit anderen Drogen werden gemacht, es wird geflirtet, abends werden Diskos besucht, Jungs kommen in die Mädchenzimmer.“ Rahile wollte leben wie ihre deutschen Freundinnen, wollte gehen, wohin sie will. Sie wollte sich in einen Jungen verlieben dürfen, bevor sie ihn heiratet. In der Schule scheiterte Rahile nach der 10. Klasse. Der Wunschberuf der Eltern für sie, Apothekerin: passé. Zu Hause hielt sie es nicht mehr aus. „Ich besuche eine Freundin", sagte Rahile eines Tages. Eine Lüge, wie so oft. Sie lief weg, tauchte unter. „Mein Vater ist innerlich zerbrochen. Meine Mutter heulte den ganzen Tag“, erzählt sie heute. Rahile hielt das nicht durch, sie kehrte zurück. Die Eltern straften sie, redeten kaum ein Wort mit ihr. „Ich hatte ihre Ehre zutiefst verletzt. Ich hatte Schande über sie gebracht.“ Sie war keine ehrbare Tochter mehr. „Wer will schon eine Weggelaufene heiraten?“ Dann kam das Angebot des Arbeitskollegen, sie mit dem Neffen zu vermählen.

Der Neffe bekam seine Aufenthaltserlaubnis. Der Onkel fand für Rahile eine Stelle in der Fabrik. „Du musst jetzt eine Familie mit ernähren“, sagten sie ihr. Rahile ging den Weg des geringsten Widerstandes. „Ich ließ es einfach geschehen“, sagt sie. Gehorchen, heiraten, eheliche Pflichten erfüllen, Kinder kriegen. Jeden Tag die Arbeit am Fließband: Gehäuse von Fernsehgeräten und Handys stanzen. Keine Hoffnung, kein Entrinnen.

In der Ehe gab es Streit vom ersten Tag an. Über die Freiheiten, die sie sich nahm, über ihre Kleidung. Ihr Mann ließ sie keine Sekunde aus den Augen. „Kam ich mal fünf Minuten zu spät nach Hause, hatte er schon die ganze Stadt abtelefoniert. Hinterher schrie er mich an.“ Er verbrannte ihre kurzen Röcke, die rückenfreien Kleider, alles, was nur ein wenig freizügig war. Beklagte sie sich bei ihren Eltern über ihn, bekam Rahile zu hören: „Er trinkt nicht, er spielt nicht, er betrügt und schlägt Dich nicht. Was willst Du?“ Kein Grund, diesen Mann zu verlassen. Rahile resignierte, glaubte, die Tradition lasse keine Scheidung zu

Oft schnappte sie sich ihre Kinder und ging mit ihnen aus. „Sie habe ich bekommen, damit er mich in Ruhe lässt.“ Wenn sie mit Trennung drohte, sagte ihr Mann: „Die Kinder lasse ich Dir nicht.“ Sie hatte Angst, dass er sie in die Türkei entführt oder dass das türkische Gericht ihm das Sorgerecht zuspricht. An den Kindern ließ er seine Wut aus. „Er hat sie oft wegen Kleinigkeiten schlimm verprügelt“, sagt Rahile. Als ihr Sohn 10 Jahre alt war, hielt ihm der Vater, Sportschütze, eine Pistole an die Schläfe. Er glaubte, das Kind habe gestohlen. Erst zwei Jahre nach diesem Vorfall, 1998, reichte Rahile die Scheidung ein. Sie konnte nicht mehr. Und dann war da auch noch dieser Deutsche. „Ich war das erste Mal in meinem Leben verliebt“, sagt Rahile. Der Mann erwiderte ihre Zuneigung nicht.

Drei Scheidungsanträge lehnte der zuständige Richter in der Türkei ab, weil der Ehemann nicht einwilligen wollte. Zwei Jahre nach dem vierten Antrag wurde die Ehe geschieden – gegen den Willen des Ehemannes.

Rahile kündigte ihren Job in der Fabrik, begann ihre Umschulung zur Altenpflegerin. Sie geht jetzt häufig aus. Es gibt einen neuen Mann in ihrem Leben. „Mit einem türkischen Mann möchte ich nie wieder etwas zu tun haben“, sagt sie. Im Beruf ist sie ehrgeizig. Ihr Wunschziel ist es, irgendwann die Leitung eines Seniorenheimes zu übernehmen oder einen eigenen Pflegedienst zu eröffnen. „Jetzt erst lebe ich ein selbstbestimmtes Leben“, sagt sie. „Und das werde ich nie wieder aufgeben.“

Suzan gülfirat

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