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Berlin: Zwei Seelen

Überall Ausländer zu sein – das kann krank machen. Die türkischstämmigen Psychotherapeuten Cicek Bayrakci und Munip Bineytioglu sind die heimlichen Integrationsbeauftragten der Stadt.

Manchmal erinnert ihre Arbeit sie an einen Hollywoodfilm, den sie einmal sah. In „Reine Nervensache“ spielt Robert De Niro einen Mafiaboss, der einen Psychoanalytiker aufsucht. „Wie der ihm dann den Ödipus-Komplex erklärt, das ist wahnsinnig komisch“, sagt Cicek Bayrakci. Sie sitzt in einer türkischen Bäckerei am Kottbusser Tor, auf dem Tisch stehen Tee und Baklava. „Ein bisschen ist es doch auch bei uns so, oder, Munip?“, fragt sie ihr Gegenüber. „Türken könnte man doch auch nicht mit Freud kommen und ihnen sagen, dass sie ihre Mutter begehren.“

Der Mann wiegt den Kopf. „Wenn man es vorsichtig formuliert“, sagt er. „Aber selbst dann ...“, erwidert Bayrakci und schon sind die beiden mitten in einem fachlichen Diskurs. Die Frau führt ihn leidenschaftlich, der Mann eher bedächtig, für beide ist er entscheidend für ihr Arbeitsleben. Cicek Bayrakci und Munip Bineytioglu sind Psychotherapeuten und arbeiten in derselben Gemeinschaftspraxis am Kottbusser Tor. Beide sind türkischer Herkunft, ihre Patienten sind es auch. Sie sind keine Freudianer, insofern sprechen sie ihren Patienten gegenüber nie vom Ödipus-Komplex. Die Frage, wie man die westlich geprägte Psychotherapie und traditionelle türkische Vorstellungen vereinen kann, beschäftigt sie trotzdem jeden Tag – und manchmal auch noch abends, wenn sie einen langen Arbeitstag zusammen ausklingen lassen, so wie jetzt beim Tee.

In Berlin ist die größte türkische Gemeinde Europas außerhalb der Türkei zu Hause. 180 000 türkischstämmige Menschen leben hier, etliche schon in der dritten Generation, manche von ihnen waren höchstens einmal für einen Sommerurlaub in dem Land ihrer Vorfahren. Trotzdem verschärft sich seit einigen Jahren der Ton ihnen gegenüber. Bücher wie Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ oder Kirsten Heisigs „Das Ende der Geduld“ haben den Weg für eine „Das muss man doch mal sagen dürfen“-Haltung bereitet. Überall hört man, dass deutschen Eltern nicht zuzumuten sei, ihr Kind auf eine Schule mit hohem Migrantenanteil zu schicken, dass Multikulti gescheitert sei, dass die Türken in einer Parallelgesellschaft lebten.

Dabei ist Integration keine Selbstverständlichkeit, sondern eine psychische Leistung, manchmal sogar ein Kraftakt – und nicht immer gelingt er. Laut einer Charité-Studie begehen türkische Frauen öfter Selbstmord als deutsche, und Kinder mit Migrationshintergrund leiden nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts häufiger an psychosomatischen Erkrankungen.

Doch der Staat versagt ihnen die Hilfe. Gerade erst ist eine Petition, in der der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen mehr Therapieangebote in anderen Sprachen fordert, im Bundestag abgelehnt worden. Dabei ist das psychotherapeutische Angebot für Migranten 50 Jahre nach Einwanderung der ersten Gastarbeiter immer noch katastrophal in Deutschland. Die Wissenschaftlerin Ursula Brucks hat vom „blinden Fleck“ des Gesundheitssystems gesprochen. In Berlin kommen auf die 180 000 Türken nur etwa 13 türkischsprachige Therapeuten mit Kassenzulassung. Dass das nicht reicht, weiß niemand besser als Munip Bineytioglu, 52, und Cicek Bayrakci, 40 Jahre alt. Zu ihnen kommen jeden Tag all jene, die sich in der deutschen Gesellschaft nicht zurechtfinden und krank darüber werden. Bineytioglus und Bayrakcis Arbeit ist unverzichtbar für Berlin. Sie sind die heimlichen Integrationsbeauftragten der Stadt.

Vor kurzem suchte eine Frau mittleren Alters Cicek Bayrakci auf. Sie konnte nicht schwimmen, sie konnte nicht Auto fahren, und zu Hause musste sie ihren Ehemann bedienen. Sie weinte viel. Ein deutscher Therapeut, bei dem sie gewesen war, hatte ihr nahegelegt, den Ehemann zu verlassen. Danach war sie nie wieder zu ihm gegangen. Bayrakci fragte die Frau, ob sie ihrem Mann den Tee serviere. Die Frau nickte. „Tun Sie ihm auch den Zucker rein?“ Die Frau nickte wieder. „Rühren Sie ihm den Tee auch um?“ Die Frau nickte ein drittes Mal. „Lassen Sie das. Rühren Sie nicht mehr um.“ Die Frau saß regungslos und erschrocken da, dann stimmte sie zu. In der Woche darauf sagte sie, wie gut es sich angefühlt habe, nicht zu rühren, und Bayrakci bat sie, als Nächstes den Zucker wegzulassen. So ging es weiter, monatelang. Eines Tages erzählte die Patientin, ihr Mann habe am Morgen das Frühstück gemacht. Da wusste die Therapeutin, dass sie erfolgreich gewesen war. „Manchmal“, sagt Bayrakci, „passieren die wunderbarsten Dinge in diesem Raum.“

Cicek Bayrakci arbeitet, genau wie Bineytioglu, in einer Gemeinschaftspraxis direkt am Kottbusser Tor. Gleich gegenüber ist ein türkischer Supermarkt, ein deutsch-türkischer Krankenpflegedienst wirbt für seine Dienste und beim „Orient Eck“ gibt es Döner. Während Bayrakci spricht, dringen durch das geöffnete Fenster die Stimmen der türkischen Kinder, die auf dem Hinterhof spielen. Vor Bayrakci stehen Taschentücher und ein Wecker. Beides gehört zur Standardausstattung einer psychologischen Praxis, das eine, damit der Patient weinen kann, das andere, damit die Therapeutin über seine Tränen nicht den nächsten Klienten vergisst. Ungewöhnlich ist Bayrakcis Äußeres. Sie hat lange Haare, mit Kämmen nach hinten gesteckt, dazu einen dramatischen Lidstrich, selten sehen Therapeutinnen so mondän aus. Ungewöhnlich ist auch, dass Bayrakci an einem Tag wie heute arbeitet. Es ist Samstagnachmittag, normalerweise ist die Praxis geschlossen, aber einige von Bayrakcis Patienten arbeiten im Schichtdienst und sind unter der Woche zu müde, um noch Therapie zu machen. Deshalb empfängt Bayrakci sie heute. Nun ist sie selbst müde, wird aber wieder munter, als sie über die unvereinbaren Gegensätze der Kulturen spricht. „Wenn Türken nach Deutschland kommen, ist es, als versuche man, ein Viereck in ein Dreieck zu pressen“, sagt sie.

Wenn Bayrakci über Deutsche und Türken spricht, kommt es einem vor, als lägen beide Nationen vor ihr auf der Couch. Die Deutschen, sagt sie, seien eher zwanghaft veranlagt. Das dürfe man nicht falsch verstehen: der zwanghafte Charakter habe viele gute Seiten, er sei zuverlässig, gewissenhaft und vernünftig, manchmal aber in einem so starken Maße, dass er mit dem türkischen Charakter so seine Probleme habe. „Türken sind theatralisch“, sagt Bayrakci, die über die türkische Persönlichkeitsstruktur ihre Doktorarbeit schreiben will, und meint damit, dass alles, was Türken tun, so laut und überschwänglich geschieht, als stünden sie auf der Bühne und müssten auch die Zuschauer in der letzten Reihe an ihren Gefühlen teilhaben lassen. Das kann in Arztpraxen zu Missverständnissen führen. Einmal schickte ein Mediziner eine Türkin, die von ihrem Mann verlassen worden war, zu Bayrakci weiter. Die Frau hatte ihm erzählt, dass sie höre, wie der Exmann ihren Namen rufe. Der Arzt vermutete eine Psychose – Stimmenhören gilt im westlichen Kulturkreis als eines ihrer wesentlichen Symptome. Bayrakci entdeckte nur eine depressive Verstimmung. „Die Frau hat ihren Mann einfach vermisst und gehofft, dass es ihm auch so geht. Sie hat es nur anders ausgedrückt als ein Deutscher.“

Einen Raum weiter sitzt Munip Bineytioglu. Er kann so ernst schauen, dass er fast grimmig erscheint, und dann lacht er mit einem Mal und man fragt sich, ob man sich den strengen Blick zuvor nur eingebildet hat. Nun lehnt er sich in seinem knarzenden Ledersessel zurück und erzählt, wie er festgestellt hat, dass einige Erkrankungen im direkten Zusammenhang mit der Migration stehen. Immer wieder hatte er Türken mit einer Panikstörung bei sich sitzen. Nach einer Weile bemerkte er eine Gemeinsamkeit: Viele von ihnen hatten Kinder, oft Töchter, die darauf bestanden, freitags in die Disko zu gehen, die überhaupt darauf bestanden, alles wie ihre deutschen Freundinnen und anders als ihre türkischen Eltern zu machen. „Wenn man traditionell lebt, ist alles geregelt, und alle wissen, was zu tun ist. Hier in Deutschland erleben die Eltern einen Kontrollverlust und deshalb geraten sie in Panik“, sagt Bineytioglu. In ihrer Verzweiflung würden die Eltern manchmal überlegen, mit der Familie in die Türkei zurückzukehren. Aber auch dort seien sie inzwischen fremd. „Immer und überall der Ausländer zu sein, das macht psychisch krank.“

Munip Bineytioglu war elf Jahre alt, als er aus der Türkei nach Berlin zog. Etwa im gleichen Alter ging Bayrakci, die bis dahin in Berlin-Charlottenburg gelebt hatte, in die Türkei; nach Berlin sollte sie erst als junge Frau zurückkehren. Beide kennen also das Leben zwischen zwei Kulturen. Welche Schwierigkeiten mit Migration verbunden sind, müssen sie nicht in Büchern nachschlagen. Wie viele Migrantenfamilien hatten sich Bineytioglus Eltern, als sie nach Berlin gingen, aufgeteilt. Die Mutter ging vor, ein Jahr später folgte der Junge, weitere anderthalb Jahre später der Vater. Darum weiß der Therapeut sehr genau, dass sich auch eine vorübergehende Trennung von den Eltern für das Kind wie eine schreckliche kleine Ewigkeit anfühlen kann. Stets bittet er seine Patienten, detailliert zu erzählen: Wer ging wann nach Deutschland, wie haben die Kinder das verarbeitet, welche Verlustängste sind geblieben? Bayrakci weiß, dass man manchmal einfach zäh sein muss. Als sie mit 22 Jahren nach Deutschland zurückkehrte, merkte sie, wie fremd ihr die deutsche Sprache geworden war. Die Vorlesungen musste sie sich anfangs mühsam ins Türkische übersetzen, und als sie in einer Statistik-Vorlesung das Wort „Produkt-Moment-Korrelation“ das erste Mal richtig aussprach, klatschten die Kommilitonen Beifall.

Zur Psychologie ist sie, wie Bineytioglu, auf Umwegen gekommen. Er studierte zunächst Elektrotechnik, „aber da redeten sie nur über PS und Motoren“, und sie Germanistik, „aber die ganzen Gedichte haben mich nicht interessiert“. Dann schrieben sie sich für Psychologie ein, sie an der FU Berlin, er an der TU. Als sie sich eines Tages, nach dem Diplom, in der Praxis am Kottbusser Tor gegenüberstanden, in der sie sich beide eingemietet hatten, staunten sie. Ihre Brüder waren befreundet gewesen, deshalb kannten sie sich aus ihrer Kindheit, hatten sich aber aus den Augen verloren.

Für ihre Patienten haben sie wahrscheinlich allein schon deshalb therapeutische Wirkung, weil sie Vorbilder sind. Bayrakci und Bineytioglu ist es gelungen, die zwei Seelen in ihrer Brust zu vereinen. Sie sind da, wo es ihnen richtig erscheint, deutsch und anderswo türkisch. Selbst mit kontroversen Themen wie dem Islam gehen sie gelassen um. Der Koran ist für Bayrakci „ein Handbuch, wie man miteinander leben soll“, und sie weiß, welche Passagen sie zitieren muss, um ihren Patienten das zu vermitteln, was ihr in der Therapie wichtig ist: „Empathie zum Beispiel und Gelassenheit, dafür gibt es viele Beispiele im Koran.“

Munip Bineytioglu hat lange Zeit die sogenannten Elternbriefe – Erziehungstipps, die der Arbeitskreis Neue Erziehung nach Geburt eines Kindes verschickt – in türkischer Sprache herausgegeben. Dass es mit einer wörtlichen Übersetzung nicht getan war, merkte er am Thema Taschengeld. „Deutsche geben es ihren Kindern, damit die auch mal über etwas bestimmen können. Aber wollen Türken überhaupt, dass ihre Kinder so viel entscheiden?“ Er fügte also erklärende Worte über die Vorzüge der Selbstbestimmung hinzu, und weil er fand, dass man Türken mit geschriebenen Texten nicht so gut erreicht, inszenierte er mit seinen Kollegen kleine Konfliktszenen und verschickte die Elternbriefe als eine Art Hörspiel. Auch in seinen Therapien geht es oft um Erziehung, als Vater von drei Kindern hat er selbst Erfahrung.

Zu Cicek Bayrakci kommen häufig Heiratsmigrantinnen, junge Mädchen, von einem Tag auf den anderen nach Deutschland verschickt, zu einem ihnen unbekannten Mann. In ihren Geschichten geht es meist um einen abwesenden Mann und eine überpräsente Schwiegermutter, die selbst erlittene Demütigungen an die neue Frau in der Familie weitergibt. Bayrakci macht dann Rollenspiele. Ihre Klientinnen sollen sich vorstellen, wie sie ein wenig verspätet nach Hause kommen und die Schwiegermutter sofort losschimpft: Wo warst du, was ist da los, treibst du dich rum? Bayrakci übt mit ihnen dann die Erwiderung. „Ich war nirgendwo, und es ist auch nichts los. Ich bin einfach nur langsam gelaufen“, lernen die verängstigten Frauen zu sagen, den Kopf hoch erhoben, die Stimme fest. Im Gegensatz zu deutschen Therapeuten, die Bayrakcis Meinung nach manchmal zu viel von türkischen Klientinnen erwarten, erwähnt Bayrakci die Möglichkeit einer Trennung nie von allein. „30 bis 40 Prozent eigene Identität, vielleicht ein eigenes Konto, das ist schon viel.“

Bis ein türkischer Patient seinen Weg in die Praxis am Kottbusser Tor findet, muss aber manchmal viel passieren. In der Erfahrung von Bineytioglu und Bayrakci sind Deutsche oft selbst schon halbe Therapeuten. Auf die Frage nach ihrer Kindheit sprechen sie fachkundig von frühkindlichen Traumatisierungen, wenn es um Medikamente geht, sagen sie, mit dem Antidepressivum X hätten sie es schon probiert, ob es jetzt nicht an der Zeit für das Antidepressivum Y wäre. Türkische Patienten dagegen können seelischen Schmerz gar nicht unbedingt als solchen erkennen. Sie wissen nicht, dass ein Kloß im Hals ein Zeichen von Trauer sein kann und sich Sehnsucht manchmal durch ein merkwürdiges Ziehen im Bauch äußert. „Die klappern erst 15 Ärzte ab, bevor sie zu mir kommen“, sagt Bayrakci. Und wenn sie dann kommen, wundern sie sich: „Jede Woche ein fester Termin? Können wir uns nicht einfach spontan treffen?“

Psychotherapie, wie sie sich in den westlichen Ländern im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat, unterliegt einem festen Kodex: Es gibt feste Zeiten, meist 50 Minuten pro Woche, in denen sich der Klient dem Therapeuten anvertrauen kann, außerhalb dieser 50 Minuten sollte es zu keinen Kontakten kommen, und niemals sollte sich der Therapeut selbst zu Vertraulichkeiten hinreißen lassen. Dieses Regelwerk hat gute Gründe – es beugt emotionalen Verstrickungen und Missbrauch vor. Doch wäre es naiv zu glauben, dass man es ohne Einschränkungen auf die Arbeit mit türkischen Patienten übertragen könnte. „In der Türkei löst der Familienälteste die Probleme und nicht ein Fremder, den man dafür bezahlt“, sagt Bineytioglu. „Also suchen meine Patienten auch zu mir eine gewisse Nähe.“ Es ist an ihm, das richtige Maß auszutarieren. Neulich nach Arbeitsschluss rief ein Klient bei ihm an. Es gebe gute Nachrichten, jubelte er ins Telefon, er sei Vater geworden. „Ich war der Erste, dem er das erzählt hat. Da kann ich doch nicht sagen: ,Stören Sie mich nicht. Ich bin jetzt privat.’“

Ein anderes Mal musste er einen Kompromiss finden, was Geschenke angeht. Ein Mann, der seine Frau zu einigen Sitzungen begleitet hatte, kündigte kurz vor dem Urlaub an, sie würden dem Therapeuten als Zeichen ihrer Anerkennung das nächste Mal ein Goldstück mitbringen. Bineytioglu setzte ihnen auseinander, dass er als Therapeut so etwas auf keinen Fall annehmen dürfe. Das Paar fuhr weg, das Paar kam wieder und überreichte ihm ein Viertelgoldstück. Bineytioglu sagte nein, der Mann sagte zu seiner Frau gewandt: „Siehst du, ich habe es dir gesagt, jetzt ist er gekränkt, weil es kein ganzes Goldstück ist.“ Am Ende erklärte sich Bineytioglu bereit, zumindest extrascharfe Paprika anzunehmen.

Ein bisschen genießt er es auch, dass seine Patienten Dankbarkeit zeigen. „Deutsche gehen einfach, wenn die Stunde vorbei ist. Türken fragen auch mal nach: Wie halten Sie das bloß aus?“ Natürlich wischt er diese Frage beiseite, schließlich ist er der Therapeut und nicht der Patient, aber im Stillen stellt er sie sich manchmal auch. Vor einigen Monaten kam eine junge Frau zu ihm. Sie war vor ihrem gewalttätigen Mann geflüchtet und in Sorge, dass er sie und ihre Töchter aufspüren könne. Von Sitzung zu Sitzung merkte Bineytioglu, wie sie sich stärker gegenüber ihrer Umgebung abschottete und ihr Heil in der Religion zu suchen begann. Irgendwann tat er etwas, was dem therapeutischen Selbstverständnis eher fernliegt: Anstatt zu reden beschloss er zu handeln, rief beim Jugendamt an und organisierte der Frau eine Einzelfallhilfe.

Solche Fälle, bei denen 50 Minuten in der Woche nicht ausreichen, um die restlichen 10 030 Minuten zu richten, gibt es oft in der Praxis von Bineytioglu und Bayrakci. Dabei ist ihre Arbeitsbelastung ohnehin schon hoch. Als sie abends vor Pfefferminztee und Baklava sitzen, sehen sie beide müde aus. Bineytioglu hat an diesem Tag sechs und Bayrakci acht Patienten gesehen. Wenn sie zu Hause sind, werden sie die Sitzungen des vergangenen Tages nachbereiten und die des kommenden vorbereiten. „Tagsüber in der Praxis sehe ich die Patienten und abends bei mir zu Hause ihre Unterlagen“, sagt Bayrakci. Und jeden Tag melden sich neue Leute, die eine Therapie machen wollen. „Du magst wohl keine Kurden!“, rief ein Anrufer erbost in den Hörer, als Bineytioglu ihm mitteilte, dass er derzeit keine Kapazitäten habe und ihn höchstens auf die Warteliste setzen könne. Bineytioglu erzählt das mit einem Lächeln, ansonsten wird er bei der Frage nach seiner Warteliste fast unwillig. Wie viele draufstehen, nein, das weiß er nicht so genau, das will er auch nicht nachgucken. Vermutlich kommt es für einen wie ihn, der das Helfen zu seinem Beruf gemacht hat, fast einem masochistischen Akt gleich, nachzuzählen, wie vielen er nicht helfen kann. Seine Kollegin Bayrakci nimmt längst nicht mehr alle Anrufer in ihre Warteliste auf. „Stell dir vor, jemand hat akute Probleme und ich sage: ,Dann komm mal in zwei Jahren wieder.’ Das ist doch nicht human.“

Die langen Wartelisten gibt es, weil Psychotherapeuten sich wie Ärzte um eine Niederlassung bewerben müssen, erst dann kommen die gesetzlichen Krankenkassen für ihre Leistungen auf. Doch herrscht in Berlin schon seit Jahren ein Niederlassungsstopp für Therapeuten. Ein Therapeut hat nur dann eine Chance, eine kassenärztliche Zulassung zu bekommen, wenn ein anderer seine Praxis aufgibt. Interessenten müssen sich bewerben, ein spezieller Zulassungsausschuss wählt dann den Nachfolger aus – nach teilweise schwammigen Kriterien wie beruflicher Eignung.

Bineytioglu hat neun Jahre auf seine Lizenz gewartet, seit 2008 hat er sie. Cicek Bayrakci wartet immer noch. Sie hat sich bereits 16 Mal um eine Zulassung beworben, immer hat sie das eine Gebühr von 100 Euro gekostet, bekommen hat sie keine. Derzeit übernimmt nur eine einzige Betriebskrankenkasse die Therapiekosten, wenn einer ihrer Versicherten zu Bayrakci geht; Kostenerstattungsverfahren nennt sich das. Alle anderen verzweifelten Menschen, die bei Bayrakci anrufen, müssten die Therapie selbst zahlen – doch dazu sind die meisten nicht in der Lage.

Unter bestimmten Voraussetzungen, wenn der Bedarf anders nicht zu decken ist, kann ein Therapeut eine Ausnahmegenehmigung bekommen. Immer wieder haben türkische Psychologen sie gefordert, immer wieder wurden sie abgewiesen, so auch im Jahr 2008. Damals entschied das Bundessozialgericht, dass eine muttersprachliche Therapie nicht zur Grundversorgung gehöre, mit anderen Worten: Wer hierzulande eine Therapie will, muss eben gut Deutsch können.

Zu Bineytioglu kam vor einiger Zeit ein verzweifelter Mann, der nur schlecht Deutsch sprach. Er hatte seine Tochter verheiraten wollen, doch kurz vor der Feier war sie abgehauen. Der Skandal war groß, und seine Brüder begannen zu drängen: Wenn er ihr das durchgehen lasse, kämen auch ihre Cousinen auf dumme Ideen und die Familienehre sei in Gefahr. Es gäbe also nur eine Möglichkeit: Er müsse die Tochter finden und töten. Zerrissen zwischen der Liebe zur Tochter und dem Gefühl der Verpflichtung gegenüber seinen Brüdern wandte sich der Vater an Bineytioglu. „Überall hörte er nur: Töte deine Tochter“, sagt der Therapeut. „Ich war die andere Stimme, die ihm sagte: ,Willst du deine Liebe so zertreten?’“ Es ist ein Glück für die Tochter, dass es diese Stimme gab. Dank ihr hat sie überlebt.

Zur Wahrung der Patientenrechte wurden alle Fallgeschichten anonymisiert.

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