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Nicht nur symbolisch anwesend: Ilona Fichtner erhielt Besuch von Erich Honecker. Die DDR feierte ihre Wohnung als die zweimillionste der Repubilk.

© ddp

Zweimillionste Wohnung: Als Honecker zum Kaffee kam

Sie ist eine der letzten Mieterinnen hier, die sich noch erinnert: In ihrem Haus in Mitte feierte die DDR die zweimillionste Wohnung – und Ilona Fichtner saß mittendrin.

Das Material, aus dem einst der Fortschritt gebaut wurde, ist renovierungsbedürftig. Der gelbe Linoleum-Fußboden, grau getreten von den Schuhen der Bewohner, geschunden von ihren Fahrrädern und Kinderwagen, liegt traurig da, als warte er auf sein Ende. Die schweren Wohnungstüren aus grauem Metall, die bei jedem Öffnen und Schließen das Haus erzittern lassen, erinnern an düstere Kinofilme. Der blassblau gestrichene Bau, in dem Erich Honecker 1984 die zweimillionste Wohnung der DDR einweihte, wirkt seltsam fehl am Platz in diesem glattpolierten Viertel rund um Zionskirch- und Arkonaplatz, eine Gegend, die Immobilieninvestoren als eine der begehrtesten Adressen Berlins anpreisen.

Als Ilona Fichtner mit ihrer Familie in die Swinemünder Straße Nummer 120 zog, gab es noch keine Investoren, und eine Sanierung war Angelegenheit des Staates. Sie ahnte damals, dass die Begegnung mit Honecker einigen Trubel mit sich bringen würde. Weil der Generalsekretär der SED am 9. Februar 1984 für einige Minuten auf ihrem Sofa hockte und an seinem Kaffee nippte, ist sie nie ganz zur Ruhe gekommen in ihren vier Wänden.

Ilona Fichtner, inzwischen eine 60-jährige Frau mit grauem Haar und jungem Gesicht, öffnet die Tür und tritt einen Schritt zurück, so als wolle sie Platz schaffen zwischen sich und der Welt draußen. Sie trägt einen hellen Samtpullover, eine bequeme dunkle Hose und bunte Pantoffeln. Hinter ihr breitet sich ein meterlanger Flur aus, auf dem Boden liegt ein braun gestreifter Teppich. Sie bittet in die 80 Quadratmeter große Vier-Zimmer-Wohnung hinein, läuft in die Küche und brüht zwei Tassen Kaffee auf.

„Die Fenster sind neu, die haben sie nach der Wende eingebaut, und einen neuen Gasherd haben sie auch gebracht“, sagt sie. Wie das oft ist mit dem Neuen: Es funktioniert nicht so wie das Alte. „Die Flammen kommen unregelmäßig.“ Sonst ist in der Küche vieles wie einst: die beigen Küchenschränke aus Holzfurnier, der PVC-Fußboden in Parkettoptik, die türkisfarbenen Fliesen über der Spüle. Auf den Ablageflächen stehen Küchengeräte aus Ost und West, die sich über die Jahre angesammelt haben. Ilona Fichtner hat gern alles in Griffhöhe, seit sie an der Hüfte operiert wurde und schlecht an die oberen Küchenschränke kommt.

Lesen Sie auf Seite zwei, wie die DDR bis 1990 "wohnungssorgenfrei" werden wollte.

Das Haus in dem Ilona Fichtner Besuch von Erich Honecker bekam heute.
Das Haus in dem Ilona Fichtner Besuch von Erich Honecker bekam heute.

© Doris Spiekermann-Klaas

Damit Honecker frische Farbe riechen konnte, wurde zumindest der Flur neu gestrichen. Aber nur die Meter, die er auch sehen konnte.
Damit Honecker frische Farbe riechen konnte, wurde zumindest der Flur neu gestrichen. Aber nur die Meter, die er auch sehen konnte.

© dpa

Als die Fichtners damals eine Wohnung suchten, steckte die DDR mitten in ihrem gigantischen Wohnungsbauprogramm, aufgelegt 1971 als Kernstück der Sozialpolitik der SED. „Bis 1990, sagt die Partei, sind wir alle wohnungssorgenfrei“, sang damals der Liedermacher Reinhard Lakomy. Und an den Stadträndern wuchsen Hochhaussiedlungen wie Berlin-Marzahn, Leipzig-Grünau oder Halle-Neustadt aus dem Boden, in ihnen stapelten sich die Bürger der DDR übereinander. Sie sollten in den Genuss modernen Wohnkomforts kommen, um sich zu Hause wohl zu fühlen. Und sich nicht woandershin zu sehnen.

Wenige Altbauviertel wurden Rekonstruktionsgebiet, in denen der Altbestand saniert wurde – wie rund um den Arkonaplatz. Die Fichtners wollten gerne im Zentrum bleiben, wo sie seit ihrem Umzug aus dem Spreewald lebten. Nur hatte die Wohnung in der Marienstraße in Mitte ihre Macken: Im Winter wurde sie wegen der 3,90 Meter hohen Decken kaum warm. Das Heraufschleppen der Kohle bereitete Mühe. Und so stellte Herr Fichtner 1980 einen Antrag auf eine neue Wohnung.

Kurz vor Weihnachten 1983, es war ein Sonntag, stand dann plötzlich der Kombinatsdirektor der Berliner Verkehrsbetriebe (BVB) vor der Tür. „Er hat uns gefragt, ob wir jetzt umziehen wollen.“ Beide Fichtners arbeiteten bei den BVB. Das Unternehmen hatte den Zuschlag für die zweimillionste Wohnung bekommen, die seit 1971 neu gebaut oder saniert wurde. Die Betriebsleitung konnte auswählen, wer von den Beschäftigten sie bekommt. Warum die Wahl auf sie fiel, erfuhren die Fichtners nicht. „Es ging nach Anzahl der Kinder, wie man gearbeitet hat und welche Schichten man übernommen hat“, sagt Ilona Fichtner.

Schon am nächsten Tag besichtigte das Ehepaar die Wohnung – und sagte zu. „Da rückten die erst mit der Sprache raus“, erinnert sich Frau Fichtner. Ob sie die Wohnung auch nehmen würden, wenn Honecker zur Einweihung käme. Zeit, um zu überlegen, gab es nicht. Abzulehnen schien ein wenig zu riskant. „Wer weiß denn, was für eine Wohnung wir sonst gekriegt hätten oder wie lange wir noch hätten warten müssen.“ Darum sagten Fichtners: „Na gut.“

Ilona Fichtner geht mit ihrer Kaffeetasse in der Hand durch den langen Flur in ihr Wohnzimmer. In den Etagen der dunkelbraunen Schrankwand stehen Fotos, Bücher, DVDs und Gläser sorgsam nebeneinander aufgereiht. Die Gardinen und Pflanzen vor dem Fenster schlucken das Tageslicht. Sie setzt sich an den Esstisch und holt ein dickes Fotoalbum vom Regal herunter. Darin hat sie alles aufgehoben, was sie an den Tag, als Honecker zum Kaffee kam, erinnert. Mehrere Fotos kleben darin und Artikel aus den DDR-Zeitungen, die über das Ereignis berichteten. Fichtners gelangten damals auf die Titelseite der Tageszeitungen. Auch das Fernsehen war da. Die ganze DDR sollte sehen, wie der Staat und die Partei den Fortschritt bauen.

Lesen Sie auf Seite drei, warum Honecker frische Farbe riechen konnte, obwohl die Wohnung gar nicht frisch saniert war.

„Dabei war die Wohnung gar nicht frisch saniert. Die Bauarbeiten waren schon Anfang der 80er Jahre abgeschlossen.“ Am selben Tag wurde aber in Hohenschönhausen der Grundstein für das Haus gelegt, in dem die dreimillionste Wohnung entstehen sollte. Honecker fuhr morgens dort vor und anschließend in die Swinemünder Staße. Es passte in den Terminplan und in die Nachrichten.

Damit der Staatsratsvorsitzende frische Farbe riechen konnte, wurden die Wände im Hauseingang noch einmal neu gestrichen. „Ungefähr so weit, wie er gucken konnte, und vielleicht noch einen Meter weiter“, sagt Frau Fichtner. Seit dem frühen Morgen waren sie auf den Beinen, ständig gingen Leute in ihrer Wohnung ein und aus. Zwei Damen vom Bezirk kamen und bereiteten die Kaffeetafel vor. „Die haben auch den Kaffee mitgebracht, den durften wir nicht selbst kochen, damit nichts passiert.“ Auch die Stasi war da. „Die erkannte man schon von weitem. Draußen standen welche und auf jedem Treppenabsatz noch einer.“

Ilona Fichtner, ihr Mann und die beiden Söhne erwarteten den hohen Besuch unten im Hof, wo sich schon eine Menschenmenge von 100 Leuten angesammelt hatte. Herr Fichtner hatte eine Rede vorbereitet, in der er das Staatsoberhaupt „ganz spontan“ zum Kaffee einlud. Und nachdem Erich Honecker an den winkenden Menschen vorbeigelaufen war, Kinderhände geschüttelt hatte und auch die symbolische Schlüsselübergabe erfolgt war, ging es hinauf in den dritten Stock.

„Als wir wieder hoch kamen, war die Wohnung voll. Ich war ganz geblendet von den Scheinwerfern der Kameras.“ Und dann kam die Kaffeetafel. Wie sie sich gefühlt hat, als Erich Honecker neben ihr saß, weiß Ilona Fichtner heute nicht mehr so genau. „Wir haben ein wenig geredet, und er hat mir ein Autogramm gegeben. Die Szene sieht man auch auf dem Foto“, sagt sie und zeigt auf das Bild, auf dem sie und Honecker nebeneinander auf dem Sofa sitzen. Gemütlich sieht das aus. Insgesamt sei ihr der Besuch wie eine Ewigkeit vorgekommen, „dabei war es bestimmt nicht lang, höchstens eine halbe Stunde.“

So voll wie damals wurde es in ihrer Wohnung nie wieder. Es klingelte immer mal wieder an ihrer Tür, mal kam eine Delegation aus Prag, einmal, noch vor dem Mauerfall, kam eine junge Frau aus Hamburg, die neugierig war. Nach der Wende schrieben Journalisten die Geschichte auf, aber mit der Zeit wurde es ruhig in der zweimillionsten Wohnung der DDR.

Heute lebt Frau Fichtner dort allein. Ihr Mann und sie ließen sich scheiden, die Söhne zogen um, als sie erwachsen waren – einer nach Niedersachsen und einer nach Taiwan. Ein oder zwei Bekannte gibt es noch in der Umgebung, der Rest ist weggezogen. Vielleicht auch weil er musste. Denn wer heute hier wohnt, entscheidet der Geldbeutel und nicht mehr der Kombinatsdirektor. In den fast ausnahmslos sanierten Altbauten sind die Mieten für Alteingesessene kaum noch bezahlbar.

Ilona Fichtner ist eine der letzten, die blieben. Aus 123,99 DDR-Mark Miete wurden über fast 30 Jahre knapp 500 Euro. Das ist für diese Gegend günstig. In den umliegenden Wohnungen leben gut verdienende Menschen, die sonntags über den Flohmarkt am Arkonaplatz flanieren und Dinge kaufen, die alt aussehen. Dinge, die auch aus der DDR stammen. Wie zum Beispiel das Geschirr, das Ilona Fichtner in ihrer Küche hat.

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