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Frida Rejsman hat als Kind mit viel Glück das Ghetto in Minsk überlebt.

© Kai-Uwe Heinrich

Zweiter Weltkrieg: Zeitzeugin aus Belarus im Gespräch: „Die Schreie von damals höre ich heute noch“

Sie kann kaum glauben, was sie als Kind erlebt hat – Frida Rejsman hat das fürchterliche Ghetto von Minsk überlebt – ein Christ hat sie gerettet.

Wie haben Sie und Ihre Familie vor dem Krieg in Belarus gelebt?

Wir waren eine ganz normale Familie. Ich hatte zwei ältere Brüder, der älteste wurde 1923 geboren, der jüngere 1926 und ich dann 1935. Meine Eltern stammen nicht direkt aus Minsk, sondern aus den umliegenden Dörfern, in denen die Juden damals lebten. Mein Vater, Mitglied der Kommunistischen Partei, war Waise. Damals gab es bereits die ersten Drohungen, die als Aushänge überall präsent waren. Alle Juden in der Stadt Minsk wurden angewiesen, in das Ghetto zu ziehen.

Wie haben Sie die Deportation in das Ghetto als Kind wahrgenommen?

Es gab einfach die Aufforderung an alle: „Umziehen ins Ghetto, ansonsten werden Sie erschossen!“ Wir selber wohnten in einer Straße außerhalb des Ghettos. Wir sind dann zu einer Tante meines Vaters gezogen, deren Wohnung im Ghetto lag. Wer niemanden hatte, bei dem er unterkommen konnte, wurde zwangsumgesiedelt. Geschäfte gab es im Ghetto gar nicht, und auch an die Wasserversorgung war der Bezirk nicht angeschlossen. Geheizt wurde mit dem Ofen, aber dazu brauchte man Holz. Und das gab es nicht. Die sanitären Bedingungen waren einfach fürchterlich.

Haben Sie als Kind überhaupt verstanden, was um Sie herum passiert?

Damals gab es eigentlich überhaupt keine Kinder. Irgendwie waren alles alte Menschen. Ich kann mich nicht an die konkreten Anfänge erinnern, und ich weiß heute auch warum: Weil der Anfang für mich die Bedrohung war, dass ich umgebracht werde. Da hat sich mein Bewusstsein ausgeklinkt. An jedes einzelne Ereignis danach kann ich mich aber genau erinnern. Da wurde mir bewusst: Ich kann durchkommen.

Wie war die Versorgungslage im Ghetto?

Eine geregelte Versorgung gab es überhaupt nicht. Die, die in der Kolonne gearbeitet haben, bekamen tagsüber Wasser zu trinken und eine Ration zu essen. Die haben sie mitgenommen, um ihre Familie irgendwie zu versorgen. Darum hat auch jeder im Ghetto versucht, Arbeit zu kriegen. Das war unsere Kindheit. Das Ghetto in Minsk bestand zwei Jahre und vier Monate. Ich habe zwei Jahre und zwei Monate dort gelebt, also bis kurz vor dem Moment, wo das Ghetto liquidiert werden sollte. Gerettet hat mich ein Christ aus der Umgebung von Minsk, der insgesamt zehn Juden gerettet hat.

Wie sah der Alltag im Lager aus?

An ein normales Alltagsleben kann ich mich nicht erinnern. Spiele kannten wir nicht. Das Einzige war, dass wir eingeschlossen waren in einen engen Raum, jeder für sich, jeder nur mit dem Gedanken „Wo kann ich etwas zu essen herbekommen?“. Man hat immer stillgehalten, da jederzeit ein Pogrom drohte. Wenn ich den jungen Menschen heute erzähle, was ich alles gesehen habe, kann man es nicht glauben. Ich erinnere mich an ein Pogrom, das vier Tage lang dauerte. Wir hatten uns in einer Dachkammer mit 60 Leuten versteckt, auf engstem Raum. Ich habe selber gesehen, wie ein dreijähriges Mädchen, das nicht aufhören konnte zu weinen, einfach erstickt wurde. Keiner wollte sterben wegen eines einzelnen Menschen. Ich habe dann nach draußen geguckt und einen Deutschen gesehen, der ein Mädchen genommen und einfach mit dem Kopf gegen eines der Häuser gehauen hat. Pogrome wurden immer auf zwei, drei Straßen begrenzt. Ringsherum waren wir sozusagen Zusehende. Wir wussten, die Menschen werden aus ihren Häusern gezerrt, kommen in eine Strafkolonie und das ist ihr Todesurteil. Wir konnten nichts tun. Die Schreie von damals höre ich heute noch.

Haben Sie das Kriegsende bewusst erlebt?

Es war eine Riesenfreude, als die Rote Armee einmarschierte. Sie kamen durch ein Nachbardorf, das von unserem durch einen Fluss getrennt war. Ich lief am Ufer hin und her, es gab keine Brücke drüber. Da hat mich jemand hinübergetragen. In dem Dorf habe ich ein Denkmal aufstellen lassen, das war das erste Denkmal in Europa für die „Gerechten“, weil es in diesem Dorf Menschen gab, die 40 jüdische Kinder gerettet haben. Der Antisemitismus war aber nicht weg. Als ich in die Schule kam und es Auseinandersetzungen gab, wurde man allerdings schon wieder als Jude beschimpft, das lief ständig so weiter.

Sie sind Vorsitzende des Verbandes ehemaliger Häftlinge des Minsker Ghettos.

In den 90ern gab es eine Zeit des Auftauens. Mit einer Freundin, die auch im Ghetto aufgewachsen ist, habe ich mir überlegt: Irgendetwas sollten wir tun. Damals gab es einen großen Kongress der Überlebenden in Odessa. Das war die Geburtsstunde der Organisation. Seitdem wurden sieben Filme produziert und acht Bücher herausgegeben. So erfährt die Welt endlich von dem Ghetto in Minsk, das das schlimmste in Europa gewesen ist.

Sie wohnen immer noch in Minsk. Wie halten Sie das aus?

Ich kann nicht weg von dem Ort, wo so viele meiner Verwandten gestorben sind. Sie liegen da noch, ich muss auch bleiben.

Das Gespräch führte Martin Niewendick

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