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Brandenburg: „Brandenburg braucht Raumpioniere“

Der Regionalforscher Ulf Matthiesen über Verödung, Brain Drain und die Rettung des ländlichen Raums

Herr Matthiesen, Sie haben schon vor Jahren Alarm geschlagen, dass viele Brandenburger Städte und Dörfer in den nächsten Jahrzehnten bis zu 50 Prozent ihrer Einwohner verlieren. Jüngste Prognosen bestätigen das. Tickt hier eine Zeitbombe?

Ja, sicherlich. Die Bevölkerungsentwicklung wird für Brandenburg dramatische Wirkungen haben.

Ist die Politik darauf vorbereitet?

Sie tut einiges, aber nicht genug, denn die Ungleichgewichte innerhalb des Landes werden sich weiter verschärfen. Bis zum Jahr 2000 wurden diejenigen, die vor der Dramatik des Bevölkerungsrückgangs warnten, als Störenfriede angesehen. Jetzt agieren viele mit der Vorstellung eines „geografischen Determinismus“, als ob jede Prognose haargenau eintreten müsse. Dabei ist niemand in der Lage, Migrationsprognosen mittel- und langfristig niet- und nagelfest zu machen. Auch, weil man eingreifen kann.

Müssen in strukturschwachen Regionen Ortschaften aufgegeben werden?

Sie werden sich so entleeren, dass dort nur noch sehr wenige alte Menschen übrig bleiben. Was dann passiert, hängt von den Leuten ab. Ob sie ihr Leben so organisieren können, dass sie sich dort noch wohlfühlen, wird man sehen. Man kann Menschen schwerlich zwangsumsiedeln. Auch deshalb müssen wir nachdenken, was mit diesen Räumen geschehen soll.

Sie warnen vor einem „Brain Drain“, dem Abfluss von Intelligenz und Kompetenz aus den Randregionen, weil vor allem die Jungen und gut Ausgebildeten weggehen. Was sind die Konsequenzen?

Es ist zu befürchten, dass mit einem kontinuierlichen Brain Drain die lokale Kompetenz so weit ausdünnt, dass es keine Wende zum Besseren geben kann. Eine Messlatte wird unterschritten, so dass Innovationen kaum mehr möglich sind.

Kann ein armes Land wie Brandenburg eine Entvölkerung der Randregionen, die in ihren Dimensionen an den Dreißigjährigen Krieg erinnert, überhaupt beherrschen?

Brandenburg muss dazu seine Lage rund um die Metropole Berlin stärken. Ohne die Chancen dieser Metropolenregion als Gesamtraum wäre das Flächenland Brandenburg mit den neuen Problemen sicherlich überfordert.

Wäre eine Fusion hilfreich?

Ja, aber sie ist ja von der politischen Tagesordnung gestrichen worden.

Der Platzeck-Berater Thomas Kralinski hat in einem Thesenpapier für einen „geordneten Rückzug“ aus entvölkerten Regionen und eine „kontrollierte Verwilderung“ plädiert. Werden die Randregionen Brandenburg zum großen Naturpark?

Das Geordnete an dem Rückzug sehe ich bislang nicht, und wie Wildnis und Kontrolle zusammenpassen, ist mir auch noch nicht klar. Aber Kralinski spricht wichtige Trends und Tendenzen an, wie die noch stärkere Konzentration der Förderpolitik auf wenige Städte, Teilregionen und Branchen. Diese Wende kommt etwas spät, und sie reicht nicht. Nötig sind einfallsreiche neue Strategien und Konzepte gerade für die Randregionen.

Wie können sie konkret aussehen?

Brandenburg braucht zusätzlich zum Konzept „Stärken gezielt stärken“ eine zweite Entwicklungsflanke. Das Land sollte beispielhaft versuchen, Raumpioniere für die strukturschwachen Regionen zu gewinnen. Menschen, die bewusst in die sich entleerenden Räume gehen, dort mit hoher Selbstausbeutung und auf eigene Rechnung etwas auf die Beine stellen. Das Konzept ist sehr breit, es reicht von A bis Z. Also von zurückkehrenden Adelsfamilien, Designerstudios in umgebauten Viehställen, Lehmbaufirmen, Slow-Food-Netzen und Öko-Landbau bis hin zu neuen Tauschringen.

Sollte das Land solche Raumpioniere stärker fördern?

Ohne Zweifel. Denn die klassische Förderpolitik geht bislang an solchen Raumpionieren fast völlig vorbei. Brandenburg muss in dieser Hinsicht viel einfallsreicher werden und Mut zu Experimenten zeigen. Es kann hier eine Vorreiterrolle übernehmen.Das würde das Land zusätzlich attraktiv machen.

Wo sollen die Raumpioniere herkommen?

Aus Berlin, aus der Bundesrepublik, aus dem Ausland – und natürlich auch aus der näheren Umgebung. Dem Brain Drain ist allein mit lokalen Mitteln nicht beizukommen, das Land ist auf externe Kompetenz angewiesen. Vielfach gibt es vor Ort schon so etwas wie den Verlust der Fähigkeit, zukunftsfähige Ideen zu entwickeln und an zukunftsfähige Entwicklungen anzuschließen.

Mit der Entvölkerung der Randregionen gehen schwierige Probleme einher: Wohnungsleerstand, Überalterung, Fachkräftemangel, überdimensionierte Infrastruktur. Ist das alles überhaupt lösbar?

Die alten Fördersicherheiten und Infrastrukturstandards wird es nicht mehr geben können. Flexibilisierung heißt das Zauberwort. Es müssen neue Wege gefunden werden, etwa eine Übergabe in bürgergesellschaftliche Verantwortung. Aber das kann nicht alles sein. Brandenburg wird zum Beispiel viele Städte zurückbauen oder überdimensionierte Abwasseranlagen stilllegen müssen.

Kann es das finanziell leisten?

Die Hoffnung auf höhere Transferleistungen des Bundes ist unrealistisch. Deshalb bleibt Brandenburg gar nichts anderes übrig, als die schwierigen Probleme des Rückbaus aus eigener Kraft zu bewältigen und sich ansonsten mehr einfallen zu lassen.

Das Interview führte Michael Mara.

Ulf Matthiesen , 64, ist Regionalforscher am Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner. Er leitet dort die Abteilung für Wissensmilieus und Raumstrukturen.

Michael Mara

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