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Brandenburg: Willkommen im Land der abgehärteten Seelen

Sie essen, um satt zu werden. Sie schweigen, um sich zu verstehen. Die Brandenburger sind arbeit- und genügsam. Ihre Heimat ist eine Überdosis Dorf. Eine Erkundung.

Wenn ich im Ausland gefragt werde, woher ich komme, sage ich: Berlin. Erstens stellt sich mit dem Gesprächspartner sofort eine Gemeinsamkeit her (alle wollen nach Berlin). Zweitens möchte ich nicht mit jedem, der mich fragt, so viel Zeit verbringen, wie eine Erklärung zu Brandenburg dauert: Brandenburg ist der Landstrich, in dem es mehr Sand als Menschen gibt und mehr Seen als Städte, in dem man Radio für Erwachsene hört, Weißwein aus dem Tagebau trinkt und im Sherry badet. Drittens möchte ich nicht, dass Potsdam so überlaufen wird, wie es die Prognosen zum Bevölkerungszuwachs unheilvoll verkünden.

An den Rändern droht Berlin schon in Potsdam überzugehen, so wie die Berliner ins Potsdamer Umland übergehen, im Sommer nämlich, wenn sie ihre überdimensionierten Jachten in die Potsdamer Gewässer hineinlenken oder mit Pilzkörben in den Sacrower Wald einfallen. Bekommen sie Kinder, wollen sie „rausziehen“, was klingt, als würden sie sich von da an ununterbrochen im Freien aufhalten. Um diese Interpretation zu untermauern, wurden Kindergärten erfunden, in denen die Kleinen bei jedem Wetter den ganzen Tag im Wildpark verbringen. Hier trainieren sie ihre Naturverbundenheit, die ihnen in der Großstadt entgeht. Das wiederum bringt meine ausländischen Gesprächspartner auf den Gedanken, Potsdam sei die Hauptstadt einer Wildnis, in der es noch Wölfe und Mücken gibt, was ich auf einer österreichischen Skipiste von einem Münchner zu hören bekam. Und zugegeben: Zwischen Elbe und Oder gibt es viel Nichts. Das wurde allerdings saniert und ist für durchradelnde Touristen schön anzuschauen. Es hält die Betreiber der Stadtcafés am Leben und rechtfertigt den Betrieb von 11 bis 16 Uhr geöffneter Touristenbüros auf sonst leeren Marktplätzen. Hinter denkmalgerecht sanierten Stadtmauern ragen graffittibesprühte Fabrikruinen gebrochen authentisch in den diesigen Sommerhimmel.

Mit offenem Verdeck über die Dorfstraße

So geht der Brandenburg-Blues: Sie setzen sich ins Auto und ziehen sich die Landschaft rein. Sie öffnen das Sonnendach, die Musik volle Pulle und dann ab auf die Dorfstraßen. Sie halten zu auf einen Horizont, an dem die weißen Schwingen der Windräder kratzen. Die blaue Kornblume wird vom roten Klatschmohn abgelöst, gelb knallt der Raps dazwischen. Das ist stetig unterlegt mit dem Blättergeflacker des grünen Lichts, das von dichten Alleebaumkronen gefiltert auf die schmalen Alleen fällt. Sie fahren an verfallenen Scheunen und aufgemotzten Garagen vorbei. Ein Storch hebt ab. Im Rinnstein hockt ein Junge mit Zigarette, zwischen den Beinen kein Bier, sondern eine Flasche Coca Cola, die im Nachbardorf abgefüllt wurde, im Gewerbegebiet mit Containerbauten und Tankstellen und Billigmärkten, und zu Sonnenuntergang sehen Sie Pferde in Schilfgürteln stehen und einen Stier, der eine ganze Wiese allein begrast, und in der Ferne scheint ein Herrenhaus so barock wie die Sonne im Rückspiegel auf. Das ist der Blues der Unsentimentalen. Befeuert von Korn, nicht von Cognac.

Eine Überdosis Dorf

Eine hundertjährige Lindenallee zwischen den uckermärkischen Orten Annenwalde und Densow.
Eine hundertjährige Lindenallee zwischen den uckermärkischen Orten Annenwalde und Densow.

© Patrick Pleul/dpa

Brandenburg ist eine Überdosis Dorf. In vielen dieser menschlichen Siedlungen ist auch noch ein Einwohner anzutreffen. Denn entgegen der irrigen Annahme, die Brandenburger wären ausgestorben und durch zugezogene Rechtsanwälte oder Professorinnen ersetzt, halten sie dank der vergleichsweise guten Kindergartensituation bei der Reproduktion noch gut mit. Sie machen nur nicht so viel Geschrei darum. Sich kurz zu fassen, ist eines der wesentlichen Prinzipien eines brandenburgischen Gesprächs. Die Themenvielfalt ist so groß wie überall; worauf es ankommt, ist, sie mit kleinstmöglichem Wortaufwand zu bewältigen. Stilles Rackern, statt lautes Deklamieren. Schon der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. ließ seinen Sohn Friedrich II. wissen: „Der liebe Gott hat euch auf den Thron gesetzt nicht zum Faulenzen, sondern zum Arbeiten.“

Nur bei Menschen aus genussverwöhnten Landstrichen kann die Frage aufkommen, was eigentlich so schlimm sei an der prognostizierten Entvölkerung Brandenburgs, wenn die Leute sich hier sowieso nur zu Tode schuften. Da hocken diese Eigenbrötler auf ihrem Stück Land, so die Idee der Ortsfremden, werfen die Trecker an und drehen die Kreissägen auf, was nur dazu dient, das Schweigen nicht hören zu müssen, das dröhnend über der Landschaft liegt. Die Leute sind unempfindlich, reisefaul, stur und kommunikativ so karg wie ihre märkischen Felder. Solcherart üble Nachrede müssen sich die Bewohner des Märkischen schon jahrhundertelang gefallen lassen. In einer Schrift aus dem 17. Jahrhundert heißt es, die Märker wären „unfreundliche Leute“. Und ein Jahrhundert später wird ihnen ein „Hang zum Räsonnieren“ nachgesagt. Noch Peter Ensikat glaubte sich in Brandenburg in einem „Flachland der Gefühle“. Als Insider weiß man um die tiefe Skepsis, die den Brandenburgern eigen ist. Die Skepsis gilt allem Menschlichen, speziell seinem Ausdruck, der Sprache. In der Melkanlage, am Hochofen oder auf dem Gurkenflieger wird nicht gequatscht, denn Quatschen kostet Energie. Und fürs Zwischenmenschliche taugt die Sprache nicht, weil die Worte nie so tief reichen, wie beim Brandenburger die Gefühle sitzen. Das Ideal heißt wortloses Verstehen. Wer die Dinge gemeinsam durchmacht, muss nicht groß drüber reden. Was sich zusammenschweigt, hält ewig.

Eine brandenburger Spezialität: das Herumfrotzeln

Es gibt allerdings eine Ausnahme: das Herumfrotzeln. Das Herumfrotzeln ist die beliebteste Spielart der brandenburgischen Kommunikation. Was sich für’s ungeübte Ohr wie ein Murren anhört, ist eine Flut von Witzen und Sprüchen, die in der Summe ein Ausdruck starker Zuneigung sind. Zum Zwecke der Unterhaltung setzt man hier gern auf die Pointe. Je härter, umso besser. Das gebietet die gegenseitige Achtung. Wenn man schon die Energie aufbringt sich zu äußern, sollte das für alle Beteiligten auch einen Mehrwert haben. Und dieser Mehrwert besteht darin, sich das Leben leichter zu machen. Ich würde es das Prinzip des heilsamen Schockers nennen. „Strom macht Locken“, kommentierte ein gutgelaunter Hobbyschäfer, als sich der Nachbar an seinem Elektrozaun einen kleinen Schlag holte.

Wo aber dem Hörensagen nach nichts ist, muss was hin, damit es da, wo viel ist, keine Unruhe verursacht, am besten ein Geheimnis. Am besten ein unheimliches Geheimnis. Und so wurde aus dem arbeitslosen Brandenburger Jungmann die sagenumwobene Spezies des exotischen, tätowierten Wilden, für den in der überregionalen Presse dringend Singlefrauen gesucht wurden (um die offen auftretende Gewalt wieder in die Privatheit der vier Wände zurückzuholen), und den zuletzt Moritz von Uslar mitreißend als sanftmütigen Dauerbiertrinker in Dreiviertelhosen beschrieben hat.

Auch auf den Führungsetagen der Deutschen Bahn scheint man sich an den Prognosen zu orientieren, die das baldige Aussterben der Brandenburger verkünden, und möchte der Erfüllung dieser Prophezeiung nicht im Weg stehen. Anders lässt sich nicht erklären, warum in Brandenburg nur Regionalzüge verkehren und selbst in der Landeshauptstadt kein einziger ICE hält. „Aberglobe nenn de Lüde det, wo se dran jloben, wat aber joanich die Woarhet is“, hätte man im Raum Belzig dazu gesagt, als dort noch Mittelmärkisch gesprochen wurde, aber mit jeder Mundart verschwindet auch ein bisschen gesunder Menschenverstand.

Die einzige Hoffnung: Kartoffeln

Auf dem Dorf- und Erntefest in Fürstlich Drehna bei Luckau.
Auf dem Dorf- und Erntefest in Fürstlich Drehna bei Luckau.

© Nestor Bachmann/dpa

Doch Potsdam wächst. 2030 werden sich hier laut Statistik 337 Leute einen Quadratkilometer teilen, während den Hartnäckigen in abgelegenen Ecken sieben Mal so viel Fläche zur Verfügung stehen wird. Es sei denn, Potsdam saugt ganz Brandenburg in sich hinein. Noch stemmen sich die abgelegenen Gegenden erfolgreich gegen so ein Angesaugtwerden; sie veranstalten regionale Windparkfeste, Rapsblütenumzüge, Bettenrennen und Spargelkreistanzen, oder sie versuchen sich mit der sauren Gurke eine eigene Identität aufzubauen (die man in einer von Red-Bull kopierten Büchse als Souvenir kaufen kann). Aber selbst die ehemaligen militärischen Sperrgebiete, die sich als Naturschutzparks zu behaupten versuchen, könnte die Landeshauptstadt mit ihrer Wachstumsrasanz und permanenten Wohnungsnot bald weggesaugt haben, und damit wäre das Problem der Entvölkerung wunderbar gelöst. Es wird einfach alles zu Potsdam:

Zuerst kommen die großen Plakate für Baugrundstücke, dann die Tankstellen und Asia-Imbissbuden und die Möbelmärkte, dann stehen frisch verputzte Häuser auf den Baugrundstücken eng in Reih und Glied und noch etwas nackt auf dem Acker, der aber bald anwohnerfreundlich mit riesigen Lebensmittelmärkten ausgestattet wird, für die es eine auch für Lastkraftwagen befahrbare Straße braucht. Die Straße muss leider direkt vor der Veranda der neuen Häuser verlegt werden, weshalb man dort Transparente aufhängt mit der Forderung nach einer Umgehungsstraße, und ehe man sich’s versieht, hat man drei Umgehungsstraßen mit lauter 30-km/h-Zonen, weil an ihnen wiederum Häuser gebaut wurden, und die Fußgängerzone von Potsdam dehnt sich bis Werder, Saarmund und Teltow aus.

Zuzügler gibt es nur in Potsdam

Mit den Orten fallen die letzten Reste der nördlichen und südlichen Verfeinerungen des knackig bodenständigen Brandenburgisch dem staksigen Hochdeutsch der Wahlbrandenburger zum Opfer. Die Wahlbrandenburger kommen aus Schwaben oder dem Rheinland und wohnen meistens in Potsdam. Der Regierungsumzug, der Kauf einer teuren Villa am Heiligen See oder andere widrige Umstände haben sie hierher verschlagen, und jetzt irren sie durch den atheistisch geprägten Landstrich auf der Suche nach einem katholischen Heimatgefühl. In Potsdam ist der trockene Ur-Slang, der sachlich-kühn hingerotzt wird und sich durch das Weglassen ganzer Konsonantengruppen am Ende eines Wortes auszeichnet (wie das „ch“ in „weeßickni“) schon heute nur noch in Plattenbaurandgebieten zu hören.

Die echten Märker hauen solche Widrigkeiten nicht um. Im Land der abgehärteten Seelen haben sich Generationen mit Armut, Kriegen, Überschwemmungen, mit Soldatenkönigen, Nazibunkern und sowjetischen KGB-Offizieren arrangieren müssen und zu diesem Zweck einen ziemlich witterungsfesten Gleichmut zugelegt, der sie auf nichts hoffen lässt als das langsame Gedeihen der Kartoffel. Die aber ist wichtig. „Pellkartoffeln und Quark“ gehört neben dem Sauerkraut zu den Leibspeisen dieses Landstriches, verfeinert mit Leinöl, rohen Zwiebeln oder Leberwurst. Ohne die Kartoffel können wir Brandenburger nicht leben. Sie ist billig, wächst in ausreichenden Mengen und macht satt, weshalb sie beruhigend auf unsere brandenburgische Seele wirkt. Das Gerücht, in Brandenburg verstehe man sich nicht aufs Essen, ist, auch wenn es sich hartnäckig hält, falsch. Wir Brandenburger essen gern. Wir essen auch gern viel. Wir verstehen darunter nur ein bisschen was anderes als andere. Und so, wie es uns die Toleranz gebietet, nicht über die Verschwendung jener Esser zu schimpfen, die das Essen völlig zweckentfremden, indem sie sich an der Schönheit der Zubereitung, an der Vielfalt der Zutaten oder der Zuwendung der Köchin erfreuen, erwarten wir, dass man auch unsere Ansichten toleriert: Wir essen, um satt zu werden. Und wir möchten nicht, dass uns irgendwer mit Gequatsche die Konzentration aufs Essen versaut.

Diese manchmal stoisch oder fatalistisch wirkende Ruhe beruht auf einer zutiefst weisen Einstellung zum Leben. „Allns het sien Tied“; wie die Mundart es formulierte; alles hat seine Zeit. „Allns, wat sick ünnern Hümmel affspöln deit, passeert naoh de Klock … Up de Welt-Kaom het sien Tied, un van de Welt-Müttn het uck sien Tied. … Leevhemm und Nich-Utstaohn-Könn. Striedn und Freednholln.“

(Andacht öwer Prediger 3 to „Plattdüütsch in de Kirch Berlin-Brannborch“ Groodn Bress, 9.11.1992, Gottfried Winter.)

Antje Rávic Strubel
Antje Rávic Strubel

© picture-alliance/ dpa

Antje Rávic Strubel, 40, ist Schriftstellerin und lebt in Potsdam. Zu ihrem preisgekrönten Werk gehört das Buch „Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg“ (Piper, 256 Seiten, 14,99 Euro).

Antje Rávic Strubel

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