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Brandenburg: Der letzte Stau

Zum Feiern kamen noch einmal massenweise Trucker zum Grenzübergang Frankfurt (Oder). Ihr Warteplatz wurde zehn Jahre alt. Bis zu 60 Stunden haben sie hier gestanden. Seit Mai ist das vorbei

Frankfurt (Oder). Auf das Lkw-Röntgengerät ist Silvia Gosemann besonders stolz: „Davon gibt es nur zwei Stück in Deutschland“, sagt sie mit leuchtenden Augen. Damit wurden die Lastwagen Schicht für Schicht durchleuchtet. Das war einmal. Jetzt steht das galgenförmige Riesengerät am Parkplatzrand. Unbenutzt. Seit Mai ist die Grenze nach Polen offen, kontrolliert wird nicht mehr.

Silvia Gosemann ist eine zierliche Person, einsfünfzig vielleicht, aber im Moment wirkt sie noch kleiner, weil sie beim Erzählen mit ausgestreckter Hand einen weißrussischen Truck in Schach hält. 420 PS warten brabbelnd und zischend, bis Frau Gosemann ihre Hand sinken lässt und die Einfahrt freigibt. Sie eilt zurück über den riesigen Platz, auf dem sie Chefin war, auf dem in den vergangenen Jahren 4,6 Millionen Lkw auf ihre Zollabfertigung gewartet haben.

Im Mai 1994 wurde die Staufläche vor der Abfahrt Frankfurt (Oder)-West angelegt, weil die Schlange der wartenden Lkw die Autobahn verstopfte. Erst hatten 250 Lastwagen Platz, dann 500, und selbst als für 960 Trucks ausgebaut wurde, standen die Laster noch kilometerlang auf der Autobahn. Manchmal reichte die Schlange von der polnischen Grenze bis zum Berliner Ring. Die Fahrer warteten in der Regel 24 Stunden, bis sie über die Grenze waren, zu Spitzenzeiten 60 Stunden. Das blieb so bis zum 30. April 2004. Nach Mitternacht war Schluss. Als Silvia Gosemann am 1. Mai um drei Uhr früh nach Hause fuhr, war der Platz leer.

Daran hat sich bis zu diesem Freitagnachmittag wenig geändert, für den Frau Gosemann zur Party eingeladen hat: Zehn Jahre Stauplatz Frankfurter Tor. Elftausend vielsprachige Einladungszettel hat sie in den letzten Wochen an die Fahrer verteilt. Vielleicht ist die Geburtstagsfeier nun doch zugleich die Beerdigung, denn die Trucker brauchen den Platz nicht mehr. Die Chefin hofft, dass sie trotzdem weiter kommen, weil sie hier duschen, einkaufen, Kollegen treffen und ruhig schlafen können. Auch der Nostalgie-Faktor ist in ihrer Rechnung enthalten, wegen der vielen Geschichten: Wie aus Konkurrenten Freunde wurden, wie man einmal Geld für einen Kollegen gesammelt hat, der kurz vor Weihnachten ausgeraubt wurde, wie man im Sommer am Campingtisch Karten gespielt hat. Aber Silvia Gosemann fallen auch traurige Geschichten ein. Sie erinnert sich an den 60-Jährigen, der nach zwei Tagen Wartezeit weinend seine verwelkten Schnittblumen von der Ladefläche warf und zertrampelte. Er hatte sie selbst bezahlt, vom Verdienst eines halben Jahres. Normalerweise wurden Schnittblumen vorgelassen, aber damals blockierten polnische Bauern die Grenze. Fahrer mit Topfpflanzen mussten ohnehin warten; Tricks wie zwei Rosensträuße neben 200 Paletten Primeltöpfchen galten natürlich nicht. Express galt auch für „lebende Eier“: „Die wurden in Deutschland gelegt, in Polen bebrütet und kamen später als Küken zurück“, sagt Silvia Gosemann. Sie zeigt auf den Strommast neben der Autobahn. Von dem wollte ein Este in den Tod springen. Er war in Spanien ausgeraubt worden und bis nach Frankfurt getrampt. Als ihm seine Freundin per Telefon den Laufpass gab, kletterte er auf den Mast. Frau Gosemann holte Seelsorger, Rettungskletterer und ließ ihm Wodka bringen. Nach zwei Stunden sprang der Mann, fiel neben das Sprungtuch der Feuerwehr. Er ist vom Hals abwärts gelähmt.

Allmählich wird die Sonne rot, die Geburtstagstorte ist aufgegessen, die Feuerwehr grillt Würste, der litauische Countrysänger Algirdas Klova beginnt seinen Soundcheck. Anschließend wird sein deutscher Kollege Gunter Gabriel auftreten. Jetzt füllt sich der Parkplatz wieder; mehr als 200 Lastwagenfahrer sind eingetroffen. Auch Romas Gricius aus Vilnius. „Das ist ein Traum“, sagt der 38-Jährige. „Ich glaube, wir Lkw-Fahrer haben als erste begriffen, was die EU wirklich bedeutet.“ Trotz der entwürdigenden Warterei erinnert sich Gricius gern an Frau Gosemanns Platz. Erst hier konnte er ruhig schlafen, während er im Stau immer nachrücken musste. „Aber hier hat jeder jedem geholfen. Den Platz werde ich nie vergessen – dazu habe ich zu viel Zeit hier verbracht.“ Gricius bringt Reifen und Kleidung von Spanien nach Litauen. Morgen fährt er weiter. Weil er das Country-Konzert hören will und mit ein paar Kollegen verabredet ist. Es sind Leute, die er an den endlosen Tagen auf dem Platz kennen gelernt hat. Jetzt versucht er, sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Das ist schwierig geworden, seit ihn keine Grenze mehr aufhält.

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