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Eberswalde: Schmerz und Misstrauen nach Lillys Tod

Der Spaziergang am Vormittag war ein festes Ritual der Kita-Gruppe. Auf dem Weg entwischte die zweijährige Lilly mit ihrer Freundin und rutschte in einen zugefrorenen See. Sie starb, und eine Stadt ist untröstlich. Schmerz und Misstrauen bleiben.

Kleine Hände formen winzige Bälle aus Schnee. Mit aller Kraft, etwas Schwung und viel Geschrei finden die Kugeln irgendeinen Anorak oder den Ski-Anzug. 26 Kinder toben in der Landschaft, durch die sie einen Ausflug machen, ausgelassen. Es gibt auch Mädchen und Jungen, die sich gar nicht erst die Mühe machen, Schneebälle zu formen. Sie schaufeln die Flocken mit ihren Handschuhen in die Luft und werfen mit Wolken um sich.

Nur zwei Mädchen halten sich abseits der Kindergartengruppe. Sie können sich mit dem kalten Schnee im Gesicht nicht so recht anfreunden und suchen Deckung hinter einem Gebüsch am Wegesrand. Sie wollen sich verstecken. Doch sie kommen ins Rutschen, können sich im Schnee der Böschung nicht halten, während ihre Gruppe und die fünf Erwachsenen, die sie beaufsichtigen, noch mitten in der lustigen Schneeballschlacht kämpfen. Niemand bemerkt das Fehlen von Liz und Lilly. Beide sind gerade erst zwei Jahre alt.

Wie lange die Zweijährige in der Kälte ausharren musste, ist völlig unklar

Neben dem Weg, den die Gruppe für ihren Spaziergang gewählt hat, befindet sich der See einer ehemaligen Tongrube. Er ist zugefroren, Schnee bedeckt die Fläche. Liz und Lilly, in dicke Winterkleidung gehüllt, landen auf dem Eis. Doch ausgerechnet an der Unglücksstelle trägt die Kruste selbst das Fliegengewicht der Mädchen nicht. Durch ein Rohr gelangt ständig frisches Wasser in die Grube, sodass sie hier nicht zufriert. Während sich Liz noch irgendwie am Ufer festhalten und sich trotz der schweren Sachen herausziehen kann, gerät Lilly ganz ins Wasser. Ihre Kleidung saugt sich voll. Das Drama nimmt seinen Lauf.

Wie lange die Zweijährige in der eiskalten Umgebung ausharren musste, ist völlig unklar und nun Sache von Ermittlungen der Polizei. Möglicherweise wurde das Fehlen der Mädchen erst nach der Rückkehr der Gruppe in die 200 Meter entfernte Kita „Kunterbunt“ festgestellt. Eine offizielle Bestätigung für den tragischen Ablauf des Geschehens am 8. Dezember im Eberswalder Ortsteil Finow gibt es nicht.

„Wir können die Variante weder bestätigen, noch dementieren“, sagt Oberstaatsanwalt Thomas Meyer. „Es gab ja durch den Einsatz der verständigten Rettungskräfte und den landenden und startenden Hubschrauber keine verwertbaren Spuren am Unglücksort.“ Die Polizei habe jedenfalls nichts feststellen können. Außerdem stehe die Befragung der beteiligten Erwachsenen noch aus. Gegen die Erzieherin der Gruppe, zu der Lilly und Liz zusammen mit neun weiteren Kindern gehörten, wird wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung ermittelt. Sie lässt sich durch einen Anwalt vertreten und ist nicht erreichbar.

Anfangs wollte niemand einen Gedanken daran zulassen, dass Lilly sterben könnte

So bleiben bislang nur die mühsam zusammengetragenen Informationen – rund um den Unglücksort am Finowkanal. Das Mosaik setzt sich nur langsam zusammen: Eltern fangen Bruchstücke aus den Erzählungen ihrer Kinder auf und wer die Betreuer kannte, erfuhr vom Hergang des Ereignisses, solange diese noch darüber reden wollten.

Schließlich wollte anfangs niemand einen Gedanken daran zulassen, dass Lilly vielleicht sterben könnte. Was konnte die Kälte schon anrichten, in der sie gelegen hatte? Durch den Sturz ins eiskalte Wasser war Lillys Körpertemperatur über längere Zeit immer weiter gesunken. Aber der Mensch benötigt 36 bis 37 Grad Celsius, damit die lebenswichtigen Stoffwechselvorgänge geordnet ablaufen. Sinkt die Temperatur nur um wenige Grade, verengen sich die Blutgefäße. Der Körper schützt sich, indem erst die äußeren Funktionen von der Blutzufuhr abgeschnitten werden, als Letztes die inneren Organe und das Gehirn. Dennoch war das Vertrauen in den Überlebenswillen des Mädchens und in die Kunst der Spezialisten am Berliner Herzzentrum groß. So groß, dass in den ersten Tagen in Finow ziemlich viel und detailliert von der Schneeballschlacht und selbst vom späten Entdecken der Opfer geredet wurde.

Eine Woche hielten die Ärzte am Virchow-Klinikum das Kind im künstlichen Koma und setzten die tiefe Körpertemperatur ganz behutsam immer weiter nach oben. Doch den Hirntod konnten sie nicht verhindern. Am vergangenen Freitag mussten sie den Eltern die erschütternde Nachricht überbringen. Jetzt laufen die gerichtsmedizinischen Untersuchungen. Und bei allen Beteiligten herrscht Schweigen.

Kerzen brennen seit dem Todestag auch vor der Kita „Kunterbunt“

Die 30 und 31 Jahre alten Eltern trauern in aller Stille um ihr einziges Kind. Sie haben sich zurückgezogen und nahmen auch nicht an der spontanen Trauerfeier am Montagabend auf dem Marktplatz teil. Nur die Großeltern verfolgten am Rande mit Tränen in den Augen, wie rund 350 Menschen in Sichtweite des Weihnachtsbaums Kerzen anzündeten, Kuscheltiere und Zeichnungen in den Schnee legten und vor Schmerz immer wieder die Hände vors Gesicht hielten.

Kerzen brennen seit dem Todestag auch vor der Kita „Kunterbunt“. Auskünfte sind hier nicht zu erhalten. „Wir sagen nichts“, lautet die Standardantwort der Erzieherinnen. Der Vorwurf lastet schwer. Vernachlässigung einer für sie heiligen Pflicht. Selbst eine Reinigungskraft, die erst am späten Abend das aus den sechziger Jahren stammende Gebäude verlässt, um das sich gleich zwei Gärten mit Spielgeräten gruppieren, gibt sich verschlossen. „Ich weiß nichts und kenne nicht einmal die Unglücksstelle“, meint sie, bevor sie rasch in das Auto ihres Mannes steigt.

Lutz Landmann, als Dezernent in der Eberswalder Stadtverwaltung auch für die Kitas zuständig, bestätigt, dass alle fünf damals zur Betreuung der Kinder eingesetzten Erzieher seit dem Unglückstag krankgeschrieben sind. Ihnen sei eine psychologische Betreuung empfohlen worden. Es handele sich um die beiden ausgebildeten Pädagogen, die für jeweils elf beziehungsweise 15 Kinder die Hauptverantwortung trugen. Das entspreche dem üblichen Rahmen. „Außerdem wurde der Ausflug durch zwei Praktikantinnen, die einmal Kita-Erzieherin werden wollen, und eine Aushilfskraft beaufsichtigt“, sagt Landmann. „Mit dem Betreuungsschlüssel haben wir die Vorgaben erfüllt.“ Das Brandenburger Kita-Gesetz schreibt „0,8 Stellen für sechs Kinder bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres“ vor. Dann kann die zulässige Gruppenstärke sogar auf 12 Mädchen und Jungen wachsen. Zusätzliches Personal müssten die jeweiligen Träger der Kindereinrichtung selbst finanzieren.

Erzieherinnen und Erzieher seien einer „extremen Belastung“ ausgesetzt

Der Brandenburger Pädagogenverband forderte bereits die Landesregierung auf, die Kommunen für die Kita-Betreuung viel stärker als bisher zu unterstützen. Die Erzieherinnen und Erzieher seien einer „extremen Belastung“ ausgesetzt, klagt Verbandschef Torsten Tappert. Der offizielle Betreuungsschlüssel in den Einrichtungen sei durch Krankschreibungen oft „Makulatur“.

Dezernent Landmann will sich „an voreiligen Schuldzuweisungen“ nicht beteiligen. „Da hat der Staatsanwalt das Wort.“ Es sei jedoch ein „ermutigendes Zeichen“, dass die Eltern ihre Kinder nach wie vor in diese Kita bringen würden. Selbst die Eltern von Liz lassen ihre Tochter wieder von diesem Kindergarten betreuen. Nur zwei Tage musste das Kind im Eberswalder Krankenhaus verbringen. Dann konnte es nach Hause zurückkehren. Lediglich eine Erkältung trug es davon.

Über das Haus „Kunterbunt“, an dessen grauer Fassade Zeichnungen, Spruchbänder und Plakate vom vergnüglichen Winterspiel künden, ist nur Gutes zu hören. „Der Kindergarten hatte wohl schon zu DDR-Zeiten einen guten Ruf, wie meine Eltern erzählten“, bestätigt die 25-jährige Mandy Kästner, die bis August als Aushilfskraft dort arbeitete. „Die Atmosphäre stimmt einfach und die Erzieherinnen geben sich wirklich große Mühe.“ Der regelmäßige Spaziergang vor dem Mittagessen sei ein festes Ritual in der Kita. Dadurch hätten die Kinder noch einmal so richtig Hunger bekommen. „Warum sie an diesem Tag aber ausgerechnet zur Tongrube gelaufen sind, weiß ich nicht. Wir sind im Sommer immer in Richtung Kanal gewandert“, erzählt die junge Frau, die gern wieder in der Kita arbeiten würde. Sie frage sich bis heute, wie das Unglück passieren konnte. „Fünf Erwachsene reichen doch aus, auch wenn die Kinder gerade in diesem Alter ziemlich ausgelassen sind.“ Die schweren Skianzüge halten sie nicht davon ab zu rennen. „Die sind schnell wie ein Wiesel, man muss immer aufpassen“, sagt sie.

Der Bürgermeister hat die Tongrube inzwischen absperren lassen

Und die Kinder sollten ihrem Bewegungsdrang auch draußen nachgehen können, das gehört zum Konzept. Laut Internetseite betreuen neun Erzieherinnen etwa 85 Kinder. „Bei uns sind alle Kinder ab der 20. Woche bis zum Ende der 4. Klasse herzlich willkommen“, heißt es da. Und weiter: „Das Außengelände gibt unseren Kindern die Möglichkeit, Naturerfahrungen zu sammeln und nach Herzenslust zu toben und zu spielen.“

Bürgermeister Friedhelm Boginski hat die Tongrube inzwischen absperren und den Zulauf stoppen lassen. Eine Wiederholung der Katastrophe ist somit ausgeschlossen. Boginskis Stimme stockt immer wieder, wenn er von dem langen Gespräch mit den Eltern erzählt. „Ich war 30 Jahre Lehrer und weiß genau, was in ihnen vorgeht“, sagt er. „Wir haben in der Stadt so gebangt und gehofft und konnten doch nichts ausrichten. Wir lassen die Eltern aber niemals allein.“

Boginski weiß, wie viel Schmerz, wie viel Trauer, aber auch Wut die 60 Kilometer nördlich Berlins gelegene Stadt in den vergangenen Jahren aushalten musste. Fest ins Gedächtnis eingebrannt hat sich das Schicksal der zwölfjährigen Ulrike Brandt, die vor neun Jahren von einem mehrfach vorbestraften Mann im Ortsteil Finow von ihrem Fahrrad gezerrt, verschleppt, vergewaltigt und schließlich erdrosselt wurde. Mehr als 5500 Polizisten und Hunderte Einwohner hatten damals zwei Wochen nach dem Mädchen gesucht und schließlich seine Leiche entdeckt. Der Täter wurde gefasst und verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe.

In Eberswalde ist die Hilflosigkeit vieler Menschen offensichtlich

Erst vor wenigen Tagen war in Eberswalde schließlich des Angolaners Antonio Amadeu Kiowa gedacht worden, der im Dezember 1990 an den Folgen einer Hetzjagd von 50 mit Baseballschlägern bewaffneten rechtsextremistischen Jugendlichen gestorben war.

„Wir können diese Schmerzen nur aushalten, wenn wir enger zusammenstehen“, sagt Bürgermeister Boginski. In der nächsten Stadtverordnetenversammlung im Januar soll das tödliche Unglück von Lilly auf die Tagesordnung kommen. „Wir wollen Konsequenzen ziehen und noch einmal auf die besondere Verantwortung für unsere Kinder aufmerksam machen.“ Die Beerdigungskosten werden von der Stadt übernommen.

In Eberswalde ist die Hilflosigkeit vieler Menschen offensichtlich. Das stille Gedenken auf dem Marktplatz mit Kerzen reichte vielen nicht. „Der Bürgermeister hätte etwas sagen müssen, irgendetwas wenigstens“, klagt eine Frau vor dem Rathaus. „Es geht nicht allein um die Schuld der Erzieherin, sondern um Lehren für den Umgang mit den Kleinen.“ Bei jedem Ausflug sehe man doch, wie die Kinder beaufsichtigt würden. Eine Erzieherin gehe voran, eine zweite laufe in der Mitte und eine dritte am Schluss. Es sei einfach unverzeihlich, dass den Frauen in der Kita „Kunterbunt“ das Fehlen der beiden Mädchen nicht aufgefallen sei.

Yvonne Timm spricht als Mutter einer Tochter vielen aus dem Herzen. „Wir geben unsere Kinder am Morgen mit einem Küsschen auf die Wange in der Kita ab und wollen sie am Nachmittag unbeschadet wieder in Empfang nehmen.“ Ganz fest drückt sie ihr Kind.

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