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Brandenburg: „Es darf nicht heißen: Ich bin nicht zuständig“

Ministerin: Ämter müssen Probleme eher erkennen

Wo sehen Sie die Ursachen für die zunehmende Mentalität des Wegschauens?

Es ist sicherlich so, dass die Menschen zu DDRZeiten auch zwangsläufig mehr miteinander kommunizieren mussten: im Arbeitskollektiv, vorgegeben durch Wandzeitungen und Brigadetagebücher. Und in ihrer Freizeit durch die Widrigkeiten der Mangelwirtschaft. Der eine hatte dies, der andere das. Man war auf Beziehungen angewiesen. Heute muss sich jeder um sich selbst kümmern. Die Langzeitarbeitslosigkeit verstärkt die Tendenz, dass Menschen ihren Halt verlieren. Wenn Menschen keine Arbeit haben, besteht die Gefahr der Vereinsamung. Das ist kein Brandenburger, das ist auch kein ostdeutsches Spezifikum.

Warum reagiert Brandenburgs Politik so spät auf die Tendenzen von Gleichgültigkeit und Verwahrlosung im Land?

Ich muss widersprechen. Das Thema beschäftigt mein Haus schon seit Jahren. Regine Hildebrandt hat alles dafür getan, diesen schon kurz nach der Wende erkennbaren Tendenzen mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik zu begegnen. Die Menschen in Ostdeutschland definieren sich mehr über Arbeit als anderswo. Durch die hohe Arbeitslosigkeit ist das Frustpotenzial größer als andernorts.

Ist es ein Verarmungsproblem?

Von Verarmung kann man noch nicht sprechen. Die Grundsicherung ist ja gewährleistet. Schon die Angst um Verarmung, die Existenzangst führt dazu, dass Menschen sich abschotten, nur noch ihre eigene Existenz sehen und nicht mehr den Nachbarn. Unser größtes soziales Problem ist, dass Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit nicht herauskommen und in die Altersarmut hineinwachsen können. Deshalb ist der zweite Arbeitsmarkt unverzichtbarer denn je.

Es gibt Regionen, wo fast jeder Zweite arbeitslos ist. Ist das der tiefere Grund für die Tendenzen der Verrohung und Gewalt?

Ich wehre mich gegen Verallgemeinerungen. Wir müssen aufpassen, dass wir Arbeitslose nicht als tendenziell Gefährdete oder gar Verwahrloste stigmatisieren. Verwahrloste gibt es in Brandenburg wie in Mecklenburg-Vorpommern, in Hamburg wie in Berlin.

Aber in Brandenburg gibt es besonders viele Gewalttäter und Alkoholkranke. Hat die Politik zu lange weggeschaut?

Nein, wir haben viel Geld in die Prävention gesteckt. Aber die tiefere Ursache, die materielle Unsicherheit, können wir politisch nicht einfach wegbeschließen. Das geht nur über Arbeitsplätze.

Es häufen sich Extremverbrechen wie in Potzlow, verhungerte Kinder, der tote Dennis, die neun ermordeten Babys. Reicht das Netz der sozialen Betreuung – Jugend-, Sozial- und Gesundheitsämter – im Land aus und funktioniert die Zusammenarbeit?

Es muss Verbesserungen vor allem in der Zusammenarbeit der Behörden geben. Ziel muss es sein, die Probleme der Familien in ihrer Gesamtheit zu sehen, also die materielle, die gesundheitliche und die soziale Situation. Es darf nicht heißen: Dafür bin ich nicht zuständig, meine Kenntnisse gebe ich auch nicht an die anderen weiter. Ich gehe davon aus, dass dann extreme Problemfälle auch früher erkannt werden können. Das sollte in jedem Landkreis Chefsache werden.

Reicht das Geld?

Es ist oft keine Frage des Geldes, sondern der Kommunikation. Machen wir es konkret: Ein Kind sieht bei einer Reihenuntersuchung unterernährt aus. Wenn man dem gemeinsam nachgeht, stellt man vielleicht fest, dass die Familie verschuldet ist. Wir müssen viel mehr die Gesamtsituation einer Familie betrachten. Und wir brauchen sicherlich auch mehr aufsuchende Hilfe für Familien in Not.

Also doch mehr Staatsfürsorge?

Mehr Eigenverantwortung ist notwendig. Aber da, wo Menschen ernsthaft Hilfe brauchen, muss der Staat da sein. Wir sind jetzt dabei, in den Kommunen breite lokale Bündnisse für Familien zu bilden. Sie werden sich konkret um die Lage der Familien vor Ort kümmern. Nicht wegschauen, sondern hinschauen. Das Interview führten Michael Mara und Thorsten Metzner

Dagmar Ziegler ist seit Herbst 2004 Arbeits- und Sozialministerin. Zuvor leitete die 44-Jährige vier Jahre lang das Finanzministerium. Sie ist stellvertretende Chefin der Brandenburger SPD.

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