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Brandenburg: Gefährliche Erfolge

Aids-Medikamente wirken immer besser. Aktivisten fürchten, dass sich deshalb weniger Menschen schützen

Auf dem Testbogen war ganz deutlich das große Plus zu sehen. HIV-positiv. Martin Pohl (Name geändert) musste grinsen. Der Berater im Gesundheitsamt, erfahren im Trösten von Frisch-Aidsgetesteten, dachte zunächst, Pohl sei übergeschnappt. „Der befürchtete, ich breche zusammen.“ Dabei grinste Martin nur, weil er erleichtert war. Nicht über das Ergebnis, aber über die Gewissheit. „Mir war schon vorher klar, dass ich mich mit dem Aids-Virus infiziert hatte.“

Das war vor vier Jahren, damals in Köln. Ende der neunziger Jahre begann sich der Wettlauf zwischen Pharmakologen und Aids-Viren langsam zu Gunsten der Medizin zu verschieben. Die Experimentierphase, in der viele neue Substanzen ausprobiert wurden, die mit ihren Nebenwirkungen das Überleben von manchem HIV-Positiven schwerer machten, statt es zu erleichtern, war vorbei. „Ich habe bei Freunden gesehen, dass die Mittel wirklich halfen“, sagt Pohl. Und ließ sich endlich testen. Damals galt noch die Devise, das Virus sofort und mit hohen Dosen anzugreifen. Jeden Tag stopfte er 16 Pillen in sich hinein, manche von ihnen so groß wie eine Fingerkuppe. Die Nebenwirkungen waren unangenehm, ließen sich aber aushalten: wochenlange Übelkeit und Taubheitsgefühl in Lippen und Fingern.

Jetzt lebt Martin Pohl in Berlin. Er sieht kerngesund aus: Er hat eine glatte, braune Haut, sein dunklen Augen leuchten und wenn er lächelt, zeigt er beneidenswert weiße Zähne. Vor wenigen Tagen bezog der 37-Jährige gemeinsam mit seinem Freund eine frisch renovierte Wohnung in Kreuzberg. Überall riecht es noch nach Farbe, Lösungsmittel lassen sich nicht so leicht weglüften. Manchem Baubiologen wäre wahrscheinlich schon das bisschen Chemie in der Luft zu viel. Martin macht das nichts aus – sein Körper ist an Chemie gewöhnt. Obwohl er jetzt weniger braucht, als noch vor vier Jahren. Jeden Morgen und jeden Abend nur drei Pillen. Die Arzneien halten die Erreger in Pohls Blut erfolgreich in Schach. „Die Zahl der Viren liegt unter der Nachweisgrenze – wenn ich heute zum Test ginge, wäre das Ergebnis negativ.“ Die beiden Medikamentenpackungen passen bequem in die Hausapotheke, eine Schublade, die Pohl direkt unter seinem Terrarium verstaut hat. Drei Schlangen, Symbole des heilenden Gottes Äskulap, dösen im Terrarium vor sich hin, künstlicher Nebel wabert durch den Glaskasten.

So auskömmlich reagiert nur eine Minderheit der HIV-Patienten auf den Medikamentencocktail. „Die meisten leiden an immer mehr Nebenwirkungen, je länger die Therapie andauert“, sagt Keikawus Arastéh, Direktor der Klinik für innere Medizin am Auguste-Viktoria-Krankenhaus. Manche Patienten entwickeln schon nach zwei Jahren eine Diabetes, andere leiden unter einer unnatürlichen Verschiebung des Unterhautfettes. „Die Behandlung von HIV ist wie eine kleine Chemotherapie, ein Leben lang.“ Doch der medizinische Fortschritt stimmt auch den Arzt optimistisch. „Wer jetzt mit einer Therapie beginnen muss, hat Chancen auf zehn oder fünfzehn Jahre gute Lebensqualität.“

Martin Pohl, der Patient, genießt diese Lebensqualität. Behaglich lehnt er sich in sein Sofa zurück, trinkt den schwarzen Tee, wie er ihn immer trinkt, mit viel Milch und ohne Zucker. Er lebe gesund, sagt er. Er raucht nicht, schläft ausreichend und schluckt Vitamine. Über die langfristigen Nebenwirkungen der HIV-Medikamente macht er sich keine Gedanken. „Ich tue ja meinem Körper nichts an, was schlimmer wäre, als jeden Tag zehn Zigaretten zu rauchen oder regelmäßig eine Flasche Korn zu leeren“, glaubt er.

Die Pharmaindustrie macht mit solchen Patienten gerne Imagewerbung. In ganzseitigen Anzeigen, die meist in Magazinen der schwulen Szene erscheinen, lächeln zum Beispiel gut- und vor allem gesund aussehende Männer direkt in die Kamera und schildern, wie gut es ihnen geht, trotz HIV. Den Aids-Hilfen ist diese Art von Werbung ein Dorn im Auge. „Solche Bilder könnten Manchen verleiten, sich nicht vor Aids zu schützen“, sagt Kai-Uwe Merkenich, Geschäftsführer der Berliner Aids-Hilfe. Seitdem es die so genannten Kombipräparate gegen Aids gibt – drei verschiedene Wirkstoffklassen bekämpfen das HI-Virus gleichzeitig – beobachten die Aktivisten einen „wachsenden Therapieoptimismus“ gerade bei Jugendlichen. Die Bereitschaft, sich zum Beispiel mit einem Kondom gegen die Ansteckung zu schützen, nehme ab, die Zahl der Neuinfektionen nehme zu (siehe Kasten). „Es ist ein fataler Irrtum, zu glauben, dass Aids nicht mehr tödlich ist“, sagt Merkenich. „Wir sehen zunächst nur eine Verlängerung der Lebenserwartung.“ Denn gestorben werde trotzdem: Allein in Berlin koste Aids jährlich hundert Menschen das Leben.

Martin Pohl kann Merkenichs Skepsis’ nicht nachvollziehen. „Die Aids-Hilfen reagieren mit alten Rezepten auf eine neue Entwicklung – man kann mit HIV leben“, sagt er. Die Wirkung von Prävention mit schockierenden Zahlen und Bildern nutzt sich eben schnell ab. „Nach all den schlimmen Jahren, in denen man fast jede Woche zu einer Beerdigung eines Freundes musste, wollen die Menschen einfach ohne Horror leben.“

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