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Brandenburg: Kein Trost in der Trauer

Nur wenige Frankfurter gedachten der toten Babys

Frankfurt (Oder) - Jahrhunderte lang haben die Frankfurter geglaubt, die Szene auf einem Glasfenster ihrer Marienkirche zeige die Geburt Jesu. Doch im Heiligenschein des „Christkindes“ befindet sich ein abgeschnittenes Kreuz, ein T – Symbol des Teufels. Denn hier wird nicht Jesus geboren, sondern der Antichrist. Der Antichrist wurde vom Teufel erschaffen, um die Menschen zum Bösen zu verführen. Und vielleicht haben die Kirchgänger deshalb lieber nicht so genau hingesehen.

„Sich dem Bösen zu stellen, den dunklen Seiten des Lebens, fällt vielen Menschen schwer“, sagt Susanne Seehaus. Die 35-Jährige ist seit zwei Jahren Pfarrerin in der evangelischen Kirchengemeinde von Frankfurt. Seitdem im benachbarten Brieskow-Finkenheerd die Leichen von neun Neugeborenen gefunden wurden, haben ihr viele Frankfurter gesagt, wie fassungslos sie seien. Eine Mutter, die über einen Zeitraum von elf Jahren hinweg neun Kinder nach der Geburt umbringt – das habe schon eine biblische Dimension. Susanne Seehaus erinnerten die hilflosen Reaktionen an den 11. September 2001. Damals arbeitete sie in der Berliner Kaiser- Wilhelm-Gedächtniskirche. Nach den Terroranschlägen hat sie dort spontan Dutzende Andachten organisiert. „Menschen haben in solchen Situationen das Bedürfnis, etwas Trost zu finden“, sagt sie. Auch deshalb hat sie am Donnerstagabend in Frankfurt eine Andacht organisiert – für die neun toten Babys. Und für deren Mutter, die in Untersuchungshaft sitzt.

Aber es kamen – wenn man Politiker und Journalisten abrechnet – nur ein paar Dutzend Frankfurter in die Marienkirche. Susanne Seehaus hat das nicht überrascht. Obwohl die evangelische Kirchengemeinde rund 6700 Mitglieder hat, gebe es in Frankfurt noch immer Ressentiments gegen die Kirche, erzählt sie: „Aber das heißt nicht, dass die Menschen nicht betroffen wären“. Die 59-jährige Hilde Rohmann macht hingegen aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl: „Ich habe gedacht, dass viel mehr Frankfurter kommen.“ Sie könne sich das nur damit erklären, dass viele wütend seien, weil Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) gesagt habe, das Verbrechen habe mit der DDR zu tun: „Die Gleichgültigkeit ist erst durch die hohe Arbeitslosigkeit gekommen – die macht Menschen kaputt.“ Das meint auch die 87-jährige Charlotte Becker: „In der DDR haben die Menschen mehr aufeinander geachtet. Das haben selbst meine Westverwandten gesagt, wenn sie uns besuchten. Jetzt denkt jeder nur an sich, es gibt Neid, weil der Nachbar noch Arbeit hat oder ein größeres Auto fährt.“

Die Jugendlichen, die auf den Bänken vor dem Oderturm sitzen, wussten gar nicht, dass es für die toten Babys eine Andacht gab. Zeitung lesen sie nicht: „Die lügen doch alle, egal ob Journalisten, Politiker oder Pfaffen.“ Ein Viadrina-Student zitiert seinen Soziologieprofessor: „In der DDR haben die Ossis die Erfahrung gemacht, dass einem nichts passierte, wenn man still hielt. Jetzt gehen sie unter, wenn sie still halten. Aber sie möchten trotzdem in der Masse bleiben.“

Pfarrerin Susanne Seehaus hat die Erfahrung gemacht, dass es manchen Menschen schon schwer fällt, in der Kirche laut mit zu singen. Und viele Frankfurter haben ihr gesagt, sie hätten sich die Andacht angeschaut – zuhause. In den Fernsehnachrichten. Sandra Dassler

Michael Mara

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