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© Anette Kögel

Kriminelle Großstadtjugendliche: Grün statt Gitter

Berlin und Brandenburg arbeiten beim Umgang mit kriminellen Kindern und Jugendlichen intensiver zusammen: Drei innovative Projekte auf dem Land für kriminelle Großstadtjugendliche.

Frostenwalde/Groß Pinnow/Liepe – Berlin und Brandenburg arbeiten beim Umgang mit kriminellen Kindern und Jugendlichen intensiver zusammen. So plant der freie Träger EJF-Lazarus, in diesem Jahr eine neuartige Einrichtung speziell für Kinder aus Berlin unter 14 Jahren zu eröffnen. Hier sollen strafunmündige Mädchen und Jungen wie der 13-jährige Berliner Serientäter Adnan untergebracht werden können. Mit einer strengen Hausordnung soll es dann möglich sein, „mal Stubenarrest zu verordnen oder die Tür zuzuschließen“, sagte der Vorstandsvorsitzende Siegfried Dreusicke gestern während einer Informationstour der auf Therapie und Strafvermeidung bei jungen Straftätern spezialisierten diakonischen Gesellschaft.

Berlins Justizministerin Gisela von der Aue (SPD) eröffnete bei der Besichtungsrundfahrt in der Uckermark bereits eine neue Einrichtung, in der vor allem junge Mädchen während der Zeit bis zu ihrem Prozess betreut werden sollen, statt sie in der oft folgenschweren Untersuchungshaft unterzubringen. Zudem besuchte von der Aue ein in der Region Berlin-Brandenburg einzigartiges Projekt für junge Strafgefangene, die zum Ende langer Haftstrafen auf einem Gutshof-Gelände in Liepe resozialisiert werden. Der Tagesspiegel konnte hinter die Kulissen dreier Projekte für Kinder und Jugendliche mit krimineller Karriere blicken.

OFFENE TÜR IN FROSTENWALDE

Hier also hat es Adnan nicht ausgehalten. Frostenwalde, idyllische Bungalowsiedlung mitten im hügeligen Grün der Uckermark mit einem Pool aus Plattenbauteilen. 100 Kilometer von der Berliner Stadtgrenze entfernt in der Natur gelegen, weit weg von Gangkumpels und falschen Freunden. Um das Gelände mit 32 Plätzen herum verläuft ein Maschendrahtzaun, keiner der Bewohner zwischen 14 und 17 Jahren darf das Grundstück verlassen – die Tore stehen jedoch offen. Für EJF-Lazarus war es eine Lösung aus der Not heraus, der 13-jährige Serientäter musste ja schnell über Nacht untergebracht werden, sagt Leiter Hans-Joachim Sommer. Der Junge sei geflüchtet, aber aus eigenen Stücken zurückgekommen. Für diejenigen, die hier meist ein paar Monate bleiben, bevor sie zu einer Haftstrafe oder Bewährung verurteilt werden, ist Frostenwalde im Vergleich zur Untersuchungshaft ein Paradies. Der 16-Jährige im Blaumann, der gewissenhaft Blumenbeete pflegt, hat unlängst Angestellte von Drogeriemärkten mit vorgehaltener Waffe bedroht. Der 17-jährige Tom (Name geändert) kennt einige Jugendvollzugsanstalten von innen. „Ich will jetzt versuchen, was gerade zu biegen“, sagt er. Marc, 16 Jahre jung, saß schon mal in einer JVA: „Kindergarten.“ Doch er will sein Leben ändern, senkt den Blick. Nett wirken sie alle, höflich; jeder Jugendliche hat einen eigenen Sozialpädagogen. Anti-Aggressionstraining gibt es. Ein Betreuer sagt aber, eben sei er beinahe körperlich angegriffen worden.

In den Schulräumen hängt eine Karte: „The World“, neue Welten will man den meist vernachlässigten Kindern benachteiligter Familien eröffnen. Im Schaufenster hängen Namen und Zensuren aus, auch in Sozialverhalten. 625 junge Kriminelle waren in Frostenwalde in den vergangenen 13 Jahren untergebracht. Sechs wollten von sich aus weg, von 18 hat sich das Team getrennt, weil sie sich nicht auf das Leben mit Verpflichtungen, ohne Straftaten, einließen. Für einen Platz zur U-Haftvermeidung zahlt das Land Berlin einen Tagessatz von 219,82 Euro. Ein U-Haft-Platz ist rund die Hälfte billiger. Die Folgekosten seien aber höher, sagt EJF-Expertin Sigrid Jordan-Nimsch. Nur 60 Prozent der Frostenwalder werden jemals wieder kriminell. Von solchen Zahlen träumen U-Haft-Statistiker.

NEUE MASCHE FÜR MÄDCHEN

Wer die Spielregeln im abgelegenen Frostenwalde beherrscht, darf eine Treppe höher. Groß Pinnow, ein schöner, sanierter Gutshofkomplex, Publikum flaniert. Den Tierpflegerjob und die Gastronomie können die 14- bis 17 Jährigen hier kennenlernen, statt in U-Haft womöglich in weitere kriminelle Tricks eingeführt zu werden. 380 000 Euro hat Berlin aus der Stiftung Deutsche Klassenlotterie für die Sanierung dazu gegeben, Gelder kamen zudem von der EU und Brandenburg. Acht Plätze gibt es in der neuen Wohngruppe, strikte Putzpläne hängen am Schwarzen Brett. Vor allem Mädchen sollen bis zur Verhandlung betreut werden. Zwei sind schon da. Eine ist gerade bei Gericht, um die andere ringen sich Presseleute und Politiker. Schüchtern antwortet sie. Ja, Körperverletzung, ja, gegen männliche Opfer. Ja, schön sei es hier, klar, sie wolle sich ändern, den Schulabsschluss nachmachen. „Arche“ heißt die neue Mädchengruppe, genau wie der Landhof, in dem Kinderfreizeiten mit Deutschen und Polen stattfinden. Einige Eltern hätten aus Angst ihr Kind dafür abgemeldet, heißt es am Rande. Passiert sei in all den Jahren aber nie etwas, obwohl der stellvertretende Ortsbürgermeister anfangs dachte, „bei uns bleibt kein Kaninchen und Küken mehr am Leben“.

HOFLEBEN STATT HAFT

In dem idyllischen Liepe nahe der Oder im Barnim haben die Dörfler lange gar nicht mitbekommen, was für schwere Jungs da auf dem restaurierten Gutshofgelände leben und arbeiten. Ausflügler kommen und gehen, bestellen im Hofcafé ein Radler. Die vier jungen Langzeitstrafler, die bis zu einem Jahr ihrer Haftstrafe im einzigartigen EJF-Lazarus-Modellprojekt verbringen, dürfen keinen Tropfen anrühren – und das Gelände nur wenige Stunden mit Genehmigung verlassen. Was für eine Vorzugsbehandlung, sagt der Laie. Was für eine Qual, sagt Leiterin Yvette Colditz-Keil. All die Versuchungen vor der Nase! Was für eine Probe fürs Leben ohne Gefängnis, da zu widerstehen. Nach der Zeit hinter Gittern sei jedes Hundegebell, jeder Kinderwagen ein Feuerwerk an Eindrücken für die Anfangzwanziger. Einer sagt, wenn er draußen ist, will er „Arbeit, Familie und straffrei leben“. Das EFJ-Team war neulich beim Fußball erfolgreich – gegen die Kicker von der Kripo. Und der Gasthof in Liepe heißt „Zur guten Hoffnung“. Das ist doch schon mal was.

Annette Kögel

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