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Ist der Traum von Europa ausgeträumt? Corona-Kontrolle an der französisch-italienischen Grenze bei Menton.

© imago

Herfried Münkler über den Umgang mit Corona: „Grenzkontrollen sind Symbolpolitik“

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler sieht im möglichen Ausnahmezustand keine Gefahr für die Demokratie. Ein Gespräch über Lehren aus der Pandemie.

Von Hans Monath

Herfried Münkler, geboren 1951, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2018 an der Berliner Humboldt-Universität Politikwissenschaften. Erschienen sind zuletzt bei Rowohlt „Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft“ (2016), zusammen mit Marina Münkler, und „Der Dreißigjährige Krieg“ (2017).

Herr Münkler, Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, hat Carl Schmitt gesagt. Ist Angela Merkel in der Corona-Krise in diesem Sinne souverän?
Den Ausnahmezustand im juristischen Sinne hat die Kanzlerin nicht ausgerufen. Aber es stimmt, die Bundesregierung geht in diese Richtung, indem sie den Normalzustand beendet, die Bewegungsfreiheit weitgehend einschränkt und andere harte Regulierungen trifft. Ich habe aber den Eindruck, dass die meisten Menschen dagegen nicht aufbegehren, sondern dies für hilfreich halten beim Kampf gegen das Virus. Das Problem ist eher die Nachlässigkeit einiger im Umgang mit den Schutzmaßnahmen.

Birgt der politische Ausnahmezustand Gefahren für die Demokratie – oder gibt es angesichts der Herausforderung durch das Corona-Virus keine andere Wahl als die Beschränkung von Freiheiten?
Solch ein Ausnahmezustand ist immer eine Herausforderung für eine liberale Demokratie und deren Selbstverständnis. Vor allem wenn jetzt niemand sicher sagen kann, wie lange er dauern wird. Wir wissen: Autokraten nutzen jede Gelegenheit, um die Kontrolle ihrer Macht zu minimieren. Sie speichern in der Krise Charisma und wollen danach die dazugewonnene Macht nicht mehr abgeben. Was die Bundesrepublik angeht, bin ich da freilich eher unbesorgt.

Was macht Sie so zuversichtlich?
Nehmen Sie nur einmal die Fernsehansprache der Kanzlerin vom Mittwoch. Sie hat den Staat überhaupt nicht absolut gesetzt. Sie hat die Verantwortung der Politik mit der der Bürger kombiniert, hat an den Gemeinsinn appelliert, der die Lösung bringen soll.

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Wie lange hält eine rastlose Wohlstandsgesellschaft den Lockdown aus?
Wer diese Frage beantworten könnte, wäre der Meister des Geschehens. Alle Einschränkungen müssen allerdings permanent daraufhin überprüft werden, ob sie wieder gelockert werden können, damit das soziale und vor allem das wirtschaftliche Leben sich wieder entfalten kann. Es hängt alles davon ab, dass sich, wenn es um die Zahl der Infizierten geht, nicht die steile Kurve, sondern die flache Kurve durchsetzt.

Als Machiavelli- und Renaissance-Spezialist kennen Sie Italien gut. Die Pandemie wütet dort jetzt schon viel schlimmer als in Deutschland, uns steht das womöglich noch bevor. Hat die Kanzlerin womöglich zu spät zu einschneidenden Maßnahmen gegriffen?
Im Nachhinein kann man natürlich fragen, ob einschneidendere Eingriffe nicht früher notwendig gewesen wären. Die grundsätzliche Frage heißt: Wie tariert man ökonomische und soziale Imperative gegen solche des Gesundheitswesens aus? Zunächst schien es ja, als ob die Norditaliener anarchisch undiszipliniert die Schließung der Schulen zum Skifahren in Südtirol nutzten, mit allen üblen Folgen, die wir nun kennen. Die Deutschen haben daraus gelernt. Jetzt sind Urlaubsgebiete wie Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein für Touristen gesperrt.

In Italien starben schon viele am Virus, als hier Ende Februar noch uneingeschränkt Karneval gefeiert wurde.
Das war sicher eine Nachlässigkeit. Von dem Journalisten Robert Leicht stammt der Satz: Die Politik handelt erst, wenn sich die verkrampften Finger des Kindes am Brunnenrand lösen und es abstürzt, vorher nicht. Womöglich musste die Krise aber auch erst sichtbar und spürbar werden, bevor die politischen Entscheidungsträger sicher sein konnten, dass sie mit den Einschränkungen auf Akzeptanz stoßen würden.

In China werden in der Corona-Krise Handydaten getrackt, um Infizierte zu überwachen. Das Robert-Koch-Institut hat schon massenhaft Handy-Daten übermittelt bekommen, diese sind aber noch anonymisiert. Erwarten Sie, dass auch dieses Tabu der Krise noch zum Opfer fällt und wir bald chinesische Verhältnisse haben?
Das glaube ich nicht. Jedes Land geht seinen eigenen Pfad. Die Chinesen sind da anders aufgestellt. Das hat mit der langen Tradition ihrer Kultur zu tun, aber auch mit der Tatsache, dass die Kommunistische Partei solche digitale Überwachung mit „Social Scoring“ auch in ganz normalen Zeiten durchführt. Die Chinesen haben eben auch ganz andere Möglichkeiten, die Menschen in ihren Häusern einzusperren und gleichzeitig Massen von Helfern bereitzustellen, die die Kontrolle und Handlungsfähigkeit des Staates präsentieren sollen. Uns Europäern sind Selbstbestimmung und Eigenverantwortung wichtiger als Fremddisziplinierung.

Das heißt, Sie glauben, dass Europa es schaffen kann, auf transparente und demokratische Art das Virus so weitgehend einzudämmen, wie das mit der Macht der KP in China gelungen ist?
Das ist ein sozio-politisches Experiment; sein Ausgang hängt davon ab, ob die Bürger in Europa von sich aus hinreichend Gemeinwohlorientierung aufbringen.

Die Globalisierung, von den Liberalen als Fortschritt gepriesen, hat mit der Wahl Trumps, dem Aufstieg der Populisten und dem Brexit schwere Schläge hinnehmen müssen. Ist das Modell der weltweiten Vernetzung an sein Ende gekommen?
Die Phase der Euphorie in Bezug auf die Globalisierung war ohnehin vorbei. Jetzt kommt es aber noch schlimmer. Es wird sich viel verändern, die Menschen werden viel vorsichtiger werden, auch wenn der Höhepunkt der Krise erst einmal überwunden sein sollte. Der Boom der Fernreisen wird kaum mehr wiederkommen. Die Unternehmen werden ihre Lieferketten daraufhin überprüfen, ob sie sich damit zu verwundbar machen. Wahrscheinlich werden dann auch weltweite Konzerne versuchen, ihre Lieferketten nicht mehr global, sondern in kleineren, geschlossenen Räumen zu organisieren, um Produktionsausfälle zu begrenzen.

"Menschen brauchen Heldenbilder", sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler .
"Menschen brauchen Heldenbilder", sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler .

© Doris Spiekermann-Klaas

Halten Sie eine ökologische Lesart der Corona-Krise für plausibel, nach dem Motto: Wir haben den Planeten und uns überfordert, zieht die Lehre daraus, kehrt um und werdet bescheiden?
Diese Pandemie als Ausdruck der Überforderung der Natur zu deuten, halte ich für wenig überzeugend. Wir haben andere Beispiele von Pandemien. Mitte des 14. Jahrhunderts kam über die Handelswege die Pest nach Europa – das hat damals noch zwei Jahre gedauert. Ein Drittel der Menschen in Europa sind ihr zum Opfer gefallen. Damals hat die Kohleverbrennung noch keine Klimakrise ausgelöst. Das Argument, die Natur habe sich Erleichterung verschaffen müssen, zieht deshalb nicht.

Es soll nicht zynisch klingen angesichts der Opfer. Trotzdem: Bringen Pandemien die Menschheit auch voran?
Die Menschen haben auf unterschiedliche Weise aus Epidemien gelernt. Mongolische Truppen haben pestinfizierte Ratten mit Katapulten in belagerte Städte geschleudert. Eine andere Form des Lernens bestand darin, die Handelsverbindung der Seidenstraße zu kappen. Der frühneuzeitliche Staat hat dann gelernt, mit großräumigen Quarantänemaßnahmen die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Die Cholera-Epidemie 1830/31 in Europa ist dafür ein gutes Beispiel. Auch die Medizin hat Fortschritte gemacht und Sicherheiten und Sperren eingebaut. Robert Koch hat Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt, dass die Keime über verschmutztes Trinkwasser übertragen werden, hat dafür gesorgt, dass sauberes Wasser bereitgestellt wurde und damit einen entscheidenden Beitrag zur Eindämmung von Seuchen auf der ganzen Welt geliefert.

Wir erleben, dass Europa, nun weltweit am stärksten vom Virus betroffen ist. Ist das auch ein Schlag für das Modell EU?
Das halte ich noch nicht für ausgemacht. Man kann gut beobachten, wie politischer Druck und auch eine gewisse Hysterie dazu führten, dass Europa nicht geschlossen reagiert. Man hätte ja den Schengen-Raum an seinen Außengrenzen dichtmachen können. Stattdessen haben die unglückseligen Österreicher wieder den Anfang gemacht und ihre Grenzen geschlossen. Ein kleines Land hat damit eine Kettenreaktion ausgelöst, auch Deutschland hat dann wieder nationale Grenzkontrollen eingeführt. Ich halte das nicht für sehr wirksam, wenn man die Pendler ausnimmt und weiterhin Warenverkehr erlaubt. Es könnte sich herausstellen, dass es nur um Symbolpolitik ging, die Handlungsfähigkeit simulieren sollte, aber keinen Schutz bietet. Das würde die Propagandisten des Nationalstaats dann nicht stärken.

Sie haben schon vor Jahren das postheroische Zeitalter ausgerufen. Wohlstandsgesellschaften mit ein oder zwei Kindern wollen nicht, dass diese als Soldaten sterben. Brauchen wir nun wieder Helden, nämlich bei den Krankenschwestern, Pflegern und Ärzten?
Offenbar können wir auf die Metaphorik des Heroischen nicht verzichten. Es stimmt, auf die Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte kommt es nun an. Auch die schlecht bezahlten Kassiererinnen stehen jeden Tag in Supermärkten im physischen Kontakt mit vielen Menschen, während andere im Homeoffice vor dem Laptop sitzen. Die Kassiererinnen sind nun ebenfalls systemrelevant. Wir müssen alle mit Nahrung versorgen.

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