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100. Geburtstag: Alexander Mitscherlich: Deutschland auf der Couch

Er gehört zu den geistigen Forschungsreisenden des 20. Jahrhunderts. Auf der Reise orientierte sich Alexander Mitscherlich an einem Kompass, dessen Zeiger in zwei Richtungen wies: Nach außen, in die Sphäre des Politischen, nach innen, in das tiefe Labyrinth der Psyche.

Von Caroline Fetscher

Für Mitscherlich wurden beide Dimensionen komplementär, lesbar nur im Wechselspiel miteinander – und mit dieser Position prägte er eine ganze Generation der deutschen Nachkriegszeit mit.

1946 betrat der Neurologe Mitscherlich am Nürnberger Tribunal für NS-Kriegsverbrecher das psychische Brachland des Nationalsozialismus. Die Ärztekammern der drei Westzonen hatten ihn als Leiter einer Kommission zur Beobachtung der NS-Ärzteprozesse eingesetzt. Der Auftrag lautete, „alles zu tun, um den Begriff der Kollektivschuld von der Ärzteschaft in der Presse und der Öffentlichkeit abzuwenden“. Erschüttert von der „seelenquälenden Quellenarbeit“ hielt es Mitscherlich allerdings im Gegenteil für seine Pflicht, die Grausamkeit der Mediziner in den Konzentrationslagern des „Dritten Reichs“ publik zu machen.

Jene „Unfähigkeit zu trauern“, Titel wie These des berühmtesten Werks von Mitscherlich, das er 1967 gemeinsam mit seiner Frau Margarete veröffentlichte, erlebt der Arzt im Gerichtssaal. „Die Reihen der Zuschauerbänke sind von den städtischen Angestellten Nürnbergs besetzt, die sich gern einmal einen amtsfreien Tag machen wollen – auch innerlich nehmen nur ganz wenige Anteil, vor allem aus dem Kreis der Ärzte selbst.“ Es werde evident, notiert er, „dass die Menschen vor einer derartigen Wirklichkeit entsetzliche Angst verspüren und sie deshalb um jeden Preis aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen suchen“. Anfang April 1947 erscheint seine Dokumentation „Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen“. Die zornige Quittung erhält der „Nestbeschmutzer“ sofort. Konfrontiert mit Vorwürfen schreibt er: „Man konnte glauben, wir hätten das alles, was hier verzeichnet ist, erfunden, um unseren ärztlichen Stand zu erniedrigen.“

Mit der Akribie eines Historikers hat Timo Hoyer, Karlsruher Professor für Pädagogik, in seinem Buch „Im Getümmel der Welt“ nun den Lebensweg Mitscherlichs nachgezeichnet, der keineswegs so geradlinig verlief, wie es die Verknüpfung der zitierten Werke suggeriert. Hoyers Buch liefert eine voluminöse Ergänzung zu der von Martin Dehli 2007 vorgelegten Biografie, die bereits die Risse und Sprünge dieses Lebens ins Bewusstsein rücken wollte. Denn Mitscherlich, 1908 in München als Sohn eines Chemikers geboren, hätte als Münchner Student der Geschichte und Kunstgeschichte wie als Verehrer des Schriftstellers Ernst Jünger wenig Anlass geboten, ihm eine Zukunft als Leitfigur neben Adorno, Horkheimer und Habermas vorauszusagen.

Ernst Jünger hatte den jungen Mann dazu ermuntert, nach Berlin zu ziehen. Verwundert bemerkt Mitscherlich, dass Landsknechte „und ähnliche Gestalten“ Jünger als „militärisches Leitbild“ ansahen. Auf der Suche nach Halt und nach Idealen setzt er vorübergehend seine Hoffnung in die Bolschewiken. „Die schwerste politische Fehldiagnose meines Lebens“, befand er 1980 in „Ein Leben für die Psychoanalyse“. In Berlin schließt Mitscherlich sich dem „Nationalrevolutionär“ Ernst Niekisch an. Als Buchhändler in Dahlem vertreibt er Schriften aus dem Umfeld Niekischs, gerät mit ihm ins Visier der SA, gerät sogar kurz in Haft und schließt im selben Jahr, 1933, eine erste Ehe.

1935 emigriert die Familie in die Schweiz, Mitscherlich studiert in Zürich Medizin. Aber sein intellektueller Kompass findet noch immer kein deutliches Magnetfeld. Naiv reist er 1937 illegal ins „Reich“ ein und gerät, ausgerechnet in Nürnberg, für acht Monate in Gestapohaft. Trotz dieser Erfahrung mit dem Regime bleibt er in Deutschland, wo er 1941, ein zweites Mal verheiratet, bei Viktor von Weizsäcker in Heidelberg promoviert und als Neurologe an der dortigen Universität eine Stelle findet. Sein Mentor von Weizsäcker, der mit Sigmund Freud korrespondiert hatte, war aufgeschlossen gegenüber der Psychoanalyse und eröffnete 1950 mit Hilfe der Rockefeller Foundation eine psychosomatische Klinik in Heidelberg – die erste ihrer Art im Land. Zwanzig Jahre lang sollte Mitscherlich ihr vorstehen. Von 1960 bis 1976 leitete er, als Pionier der nach Deutschland zurückkehrenden Psychoanalyse, auch das von ihm gegründete Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main und wurde dort 1966 Ordinarius für Psychologie.

Vom wahren Ausmaß der NS-Verbrechen aber hatte der Arzt, so erstaunt er als Analytiker selber darüber war, tatsächlich erst durch das Tribunal erfahren. Über seinen frühen Werdegang sagte Mitscherlich zwei Jahre vor seinem Tod 1982, diese Epoche gehöre zum „Fremdesten, was ich in mir entdecken kann“. Nürnberg, so scheint es, war nicht nur das Entdecken der Verdrängung der anderen, sondern auch das Erwachen aus seiner eigenen. Konsequent spricht die „Unfähigkeit zu trauern“ in der dritten Person Plural: „Wir Deutschen“.

Indem es die Nation und deren „submoralischen Notstand“ gewissermaßen auf die Couch legte, störte das Autorenpaar Mitscherlich das Wohlbefinden im Wirtschaftswunder. Im hektischen Wiederaufbau erkannten sie die „manische Abwehr“ von Schuld, Scham und Angst einer Gesellschaft, die unfähig war, den „Führer“ zu betrauern. Der „blitzartigen Wandlung“ zur Demokratie misstrauten sie, autoritäre Strukturen, Denkhemmungen, aggressiv-sadistische statt zärtliche Befriedigung von Trieben, all das wirkte, so sahen sie, fort. „Die wirklichen Menschen, die wir da unserer Herrenrasse zu opfern bereit waren, sind immer noch nicht vor unserer sinnlichen Wahrnehmung aufgetaucht“, konstatieren die Mitscherlichs.

Wenngleich streitbare Titel wie „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft – Ideen zur Sozialpsychologie“ (1963) oder „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ (1965) Stichwortgeber der Epoche wurden, bleibt „Die Unfähigkeit zu trauern“ doch das Hauptwerk, das große Anteile dem luziden Denken von Margarete Mitscherlich verdankt. Seine Nachwirkung bleibt umstritten, zahlreiche, teils von Neid und Abwehr motivierte Attacken auf diese Arbeit sollten folgen.

„Jetzt ist nicht die Zeit der Anklage, sondern die des Verstehens“, erklärte Caroline Neubaur 1985 in ihrem Bericht im „Merkur“ über den legendären 34. Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die zum ersten Mal nach dem Nationalsozialismus wieder in Deutschland tagte, in Hamburg. In ihrem Sammelband „Der Psychoanalyse auf der Spur“ liefert die Publizistin Früchte aus 30 Jahren Berichterstattung zum Thema. „Die Unfähigkeit zu trauern“sei „als Diagnose unübertrefflich“, so Neubaur 1985. Doch das „Verdikt verstellte infolge des kritischen Tonfalls einen wirklich einfühlenden Zugang zur Pathologie des deutschen Volkes“. Kritik und Vorwurf können das Trauma nicht heilen, schon da die Grundlagen der Kritik durch das Trauma betroffen sind. Und auch die neue Anthologie „Psychoanalyse und Protest – Alexander Mitscherlich und die Achtundsechziger“ glaubt, die Studie sei „von der Diagnose zur Parole“ geronnen.

Dass die Diagnose dennoch bis heute weiter debattiert wird, bezeugt ihre Brauchbarkeit – und Gültigkeit. Nicht für irgendwelche Leute, die „die Deutschen“ heißen. Sondern für uns.

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