zum Hauptinhalt
Schwere Entscheidung. Astrid (Julia Jentsch) ist schwanger und erfährt, dass ihr Kind nicht gesund zur Welt kommen wird.

© Friede Clausz

"24 Wochen" auf der Berlinale: Ein Film mit größtmöglicher Nähe

Der deutsche Beitrag im Wettbewerb: Anne Zorah Berrached hat das intime Familiendrama „24 Wochen“ geschaffen. Doch der Film ruft so viele Emotionen hervor, dass sich unsere Autorin fast gegängelt fühlt.

Kaliumchloridspritze. Die wird ab der 22. Woche gesetzt. Ab der 22. Woche ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Kind bei einem Schwangerschaftsabbruch lebend zur Welt kommt. Das Herz muss vorher still stehen, daher die Spritze, bevor die Geburt eingeleitet wird. Astrid ist in der 24. Woche.

Tabuthema Abtreibung: 90 Prozent der Frauen in Deutschland entscheiden sich für einen Abbruch, wenn sich nach dem dritten Monat herausstellt, dass ihr Kind eine Fehlbildung hat. Regisseurin Anne Zohra Berrached nennt die Zahl bei der Pressekonferenz am Sonntag noch einmal. Es sind die Mütter, die entscheiden, niemand sonst. Niemand kann es ihnen abnehmen, es geht um Leben und Tod, das ist Berracheds Thema. Im Film heißt es einmal, es könne auch keiner eine solche Entscheidung treffen, der nicht in der Situation sei, sie treffen zu müssen. „24 Wochen“, Berracheds Hochschulabschlussfilm, einziger deutscher Wettbewerbsbeitrag, zoomt nahe heran: ein hochmoralisches Drama.

Schicker Neubau samt Kindermädchen

Julia Jentsch ist Astrid Lorenz. Erfolgreiche TV-Kabarettistin, frech, selbstbewusst, mit beiden Beinen im Leben, wie man so sagt. Ein bisschen Bilderbuch-Existenz das Ganze, mit ihr zu Füßen liegendem Lebensgefährten (Bjarne Mädel als Markus), kleiner Tochter, fürsorglicher Mutter (Johanna Gastdorf), schickem Neubau außerhalb der Stadt samt Kindermädchen, Garten mit Hängematte und Fanpost frei Haus. „Fällt Ihnen was auf?“ fragt Astrid das Studiopublikum und streckt ihren schwangeren Bauch im enganliegenden Glitzer-Mini vor. „Genau, ich hab’ neue Schuhe!“

Die Pointe sitzt, wie auch der Film passgenau porträtiert: eine junge Familie hier und heute, die gerade ihr zweites Kind erwartet. Alles prima trotz Stress im Beruf, dazu echte Baby-im-Mutterleib-Aufnahmen sowie die beim Schwangerschaftsthema gern verwendeten symbolischen Unterwasserszenen im Hallenbad. Bis Astrid beim Ultraschall erfährt, dass das Baby das Down-Syndrom hat. Was machen wir jetzt? Es zerreißt das Paar schier.

Downie, darf man das sagen?, will Astrid wissen. Klar, meint Markus, nur Mongo geht nicht. Die Freunde, die Verwandten reagieren verstört, aber die Entscheidung ist bald klar. Bis sich herausstellt, dass das Baby auch noch einen schweren Herzfehler hat, es wird nur mithilfe mehrerer komplizierter Operationen überleben – vielleicht. Und was machen wir jetzt?

Improvisierte Dialoge sorgen für Authentizität

Dass sie selber Mutter ist, sagt Julia Jentsch auf dem Podium, habe ihr geholfen. Das Drehbuch habe sie bewegt, sie sei aber auch davor zurückgeschreckt. Und dass Berracheds Recherchen ihr ebenfalls geholfen hätten, auch die Begegnung mit betroffenen Paaren.

Berracheds Methode, wie schon bei ihrem Debütfilm „Zwei Mütter“ – in dem ein lesbisches Paar über die Verwirklichung seines Kinderwunschs beinahe zerbricht – halbdokumentarisch zu arbeiten, Ärzte, Klinikpersonal, Psychologen und Comedians sich selbst spielen zu lassen, zieht einen in Bann. Auch die Dialoge der Profi-Darsteller sorgen für Authentizität: Jentsch, Mädel, Gastdorf, sie improvisieren auf Basis des Drehbuchs, eine bewährte Methode, siehe Andreas Dresens Krebsdrama „Halt auf freier Strecke“. Man redet wie im wirklichen Leben, impulsiv, stockend, ins Unreine – und alle gleichzeitig, wenn es ums Ganze geht.

Die 33-jährige Regisseurin legt Wert auf größtmögliche Nähe, auf ein Kino, das unter die Haut geht. Die Kamera (Friede Clausz) scannt Julia Jentschs Gesichtszüge ab, verfolgt Astrids Verzweiflung, die Einsamkeit bei der Entscheidung, die Schwankungen ihres moralischem Kompasses bis ins feinste Muskelzucken hinein. Und auch im Krankenhaus blendet Berrached nicht weg, bis zur Kaliumchloridspritze ist der Zuschauer so nahe wie möglich dabei. Es war heftig, erinnern sich die Schauspieler. Sie hätten geweint, gestehen einige Journalisten beim Pressegespräch – und eine Amerikanerin mutmaßt, dass „24 Wochen“ in Amerika, wo in 22 Staaten jegliche Abtreibung verboten ist, bestimmt kontrovers diskutiert werden wird. Ein deutscher Film mit einem hohen Grad an Unerbittlichkeit, Dringlichkeit, Verbindlichkeit: Von Konfektionsware ist „24 Wochen“ weit entfernt.

Nähe ist keine Frage des Kameraabstands

Und doch bleibt ein Unbehagen, man fühlt sich ein wenig gegängelt: Nähe im Kino ist keine Frage des Kameraabstands. Die stärksten Momente entwickelt Berracheds Films denn auch da, wo Unvermutetes, vermeintlich Sinnloses ins Bild kommt. Eine Tagebaulandschaft im diesigen Licht, ein Windradfeld auf dem Nachhauseweg neben der Autobahn – und man kann mit Händen greifen, wie Astrids Sinne betäubt sind von der Unausweichlichkeit der Entscheidung, der Überforderung.

An diesem Montag ist Halbzeit beim 66. Berlinale-Wettbewerb. Wie die Bilder auseinander driften. Hier die welthaltigen, politischen Beiträge, Lampedusa, Tunesien, Angola, dort die intimen Dramen. Hier die Kriegs- und Mittelmeertoten, dort die Kostbarkeit eines einzigen Menschenlebens – in Nahaufnahmen mit starken Frauenfiguren, Isabelle Huppert, Sandrine Kiberlain, Julia Jentsch. Kino an den entgegen gesetzten Enden – kein schlechter Jahrgang bisher.

15.2. 10 Uhr (HdBF), 12.15 Uhr (Friedrichstadtpalast), 18 Uhr (Zoo-Palast), 16.2. 21.30 Uhr (Neue Kammerspiele), 21.2. 22 Uhr (HdBF)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false