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4. November 1968: Der Tag, an dem die Bewegung siegte

... war auch das Ende von ’68: Heute vor 40 Jahren wurde die Schlacht am Tegeler Weg ausgetragen. Anlass war ein Ehrengerichtsverfahren gegen den damaligen APO-Anwalt und heutigen NPD-Funktionär Horst Mahler.

Am Morgen des 4. November 1968 versammelten sich etwa tausend junge Leute in der Nähe des Landgerichts am Tegeler Weg in Berlin-Charlottenburg. Als die Marschkolonne sich in Bewegung setzte, konnte man unschwer erkennen, dass es sich nicht um eine der üblichen Protestdemonstrationen handelt. So fehlten die Farbe, das bunte Bild der Transparente und die kunstvoll formulierten Parolen. Fast alle trugen Helme, viele waren mit Stöcken ausgerüstet oder hatten mit Zitronensäure getränkte Tücher um, in Erwartung von Tränengasgranaten.

Anlass war ein Ereignis, das alle in der „Bewegung“ als Bedrohung empfanden. Horst Mahler, der APO-Anwalt von damals, der heute als NPD-Funktionär und bekennender Antisemit durch die Medien geistert, musste sich am Vormittag im Landgericht einem Ehrengerichtsverfahren stellen. Viele 68er, die Strafverfahren wegen Demonstrationsdelikten erwarteten, verstanden das als systematischen Angriff der Klassenjustiz, als Berufsverbot für den „Anwalt der Bewegung“.

Was an jenem Morgen begann, heißt in den Annalen der Studentenbewegung die „Schlacht am Tegeler Weg“. Daran zu erinnern, lohnt sich als Nachtrag zum 68erGedenkjahr. Denn der 4. November war ein einschneidendes Erlebnis, eine Wende. Bei genauerem Hinschauen wird klar, wie wenig in diesem Jubiläumsjahr das Gerede über die antiautoritäre Revolte mit der Wirklichkeit von damals zu tun hat. Es war eben nicht so, dass die Opfer brutaler Polizeigewalt kontinuierlich auf die Bahn des Terrors getrieben wurden – eine Version, die leider auch Oliver Hirschbiegels RAF-Film „Der Baader Meinhof Komplex“ wieder aufwärmt.

Die Demonstranten jedenfalls, die sich an jenem Morgen dem Landgericht und den Polizeisperren näherten, waren alles andere als Opfer. Im Teach-in am Vorabend hatten sie sich auf Militanz eingeschworen; ein Lehrfilm hatte ihnen erläutert, mit welchem Griff man am besten einen Polizei-Tschako abreißt. Es sollte eine Machtdemonstration werden.

Ein Jubelschrei, bevor alles anfing: Zufällig parkte gerade ein Lkw, der Pflastersteine geladen hatte. Die Polizei, von Angriffswut und Steinhageln überrascht, wurde in die Flucht getrieben. In mehreren Wellen versuchten die Demonstranten, in das Gerichtsgebäude einzudringen. Das gelang zwar nicht, aber die Polizei konnte die Demonstranten erst nach zwei Stunden mit viel Tränengas über die Schloßbrücke in die Otto-Suhr-Allee abdrängen. Am Ende fiel die Bilanz für die Straßenkämpfer positiv aus. 120 verletzte Polizisten, 22 verletzte Demonstranten, die „Bild“-Zeitung hetzte nicht mehr, sondern berichtete sachlich über die Hilflosigkeit der Ordnungshüter. Kurz: Es war der erste Sieg der „Bewegung“ im Straßenkampf. Mit geröteten Augen, aber stolz kehrte man zurück ins heimatliche Audimax der TU. Aber der Triumph war auch ein Paradox. Denn der Sieg war zugleich das Ende von ’68. Zunächst gab es ein spontanes Teach-in. Bis dahin war die kritische Selbstreflexion, die Einheit von Kritik und Aktion ein hoher Anspruch der antiautoritären Bewegung gewesen. Aber es hatte sich etwas geändert. Alle spürten, dass eine Schattenlinie überschritten war. Der Straßensieg wurde zur revolutionären Etappe stilisiert; die Frage, ob man zu weit gegangen war, wurde gar nicht erst gestellt. Gefeiert wurden vielmehr die Rocker, die als Vorboten der proletarischen Jugend an vorderster Front gekämpft hatten.

Ein SDS-Funktionär verkündete mit metallener Stimme: „Genossen, wir müssen das Militanzniveau wahren“, und traf damit die erregte Stimmung im Saal. Eine bedenklich unpolitische Formel: Die Sprache fetischisierte die militärische Sichtweise. Nun lag der Fokus auf der Schlagkraft der Bataillone, die Frage nach den wahren Kräfteverhältnissen stand lähmend im Raum. Eine solche „Schlacht“ ließ sich nicht wiederholen. Für wirkliche Machtproben waren die 68er weder geschaffen noch gerüstet. Gerade dieser Frage waren die spielerischen Aktionen der antiautoritären Bewegung immer klug ausgewichen. In allen Strategiedebatten hatte man sich die Freiheit bewahrt, zwischen Protest und Gewalt, Argument und Pflasterstein wählen zu können. Der Autor, der an diesen Ereignissen beteiligt war, erinnert sich deutlich, wie sehr die Fetischisierung der Straßengewalt auf einmal Zukunftsangst erzeugte.

Am nächsten Tag schlug die Stimmung um. Das Siegesgefühl war dahin, die Gewaltdebatte begann. Der sozialdemokratische Studentenbund hielt sich erstmals mit der „zwingenden Notwendigkeit zur Solidarisierung“ zurück. Der Theologe Helmut Gollwitzer warnte am 7. 11. an der FU in einem Teach-in eindringlich, es gehöre zum Charakter der Faschisten, dass „für sie die Gewalt kein Problem ist“. Mit seinemVorschlag, eine Trennlinie zwischen „Gewalt gegen Sachen“ und „Gewalt gegen Menschen“ zu ziehen, ging er ein hohes persönliches Risiko ein. Aber sein verzweifelter Appell nutzte wenig. Wer Revolutionär sein wollte, durfte keine Probleme mit der Gewalt haben.

Die Gewaltdebatte hatte die Studentenbewegung seit den ersten provokanten Aktionen 1964 begleitet. Immer war es darum gegangen, wieder zur Sprache zurückzufinden, Gewalttätigkeit in Politik zu verwandeln. Aber jetzt verweigerte die selbst ernannte Avantgarde der Bewegung diese Debatte. Der SDS denunzierte die Kritiker und rechtfertigte die Schlacht am Tegeler Weg als Befreiung „aus der Lage des duldenden Opfers“; die SDS-Vertreter Jürgen Horlemann und Christian Semler sprachen von der „spontanen Erhebung der dort Beteiligten“. Das war nicht nur gelogen, es war auch der Anfang eines neuen Selbstverständnisses, mit einem bedenklichen Zungenschlag bei der Formulierung der Methoden für die revolutionären Massen. Seit 1967 hatten die antiautoritären Aktionen ihren Sinn in sich selbst gefunden, waren immer Akte der Emanzipation und der Befreiung von Anpassungszwängen. Nun sollten die Straßenkämpfe nur noch Stellvertreterspiele sein, etwas Uneigentliches, bis die eigentliche, die wahre revolutionäre Kraft auf den Plan tritt.

Damit begann die Selbstdenunziation und Selbstliquidierung der antiautoritären Revolte. Weggewischt wurde das Schlüsselerlebnis des 2. Juni 1967: Nach dem rüden Polizeiangriff an der Deutschen Oper, nach der Ermordung von Benno Ohnesorg kulminierten alle Ohnmachtsvorstellungen der Studentenbewegung. Die faschistoide Gesellschaft schien auf dem besten Weg, jede radikale Opposition zu vernichten. Das Grundgefühl war: Wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Der 4. November war der Moment der Wende. Die Protestbewegung trat aus der Opferrolle heraus. Alle Welt rief: Was wollen die Studenten? Die Ohnmacht schlug um in vermeintliche Allmacht. Alle Erfolge seit 1967, das Hochgefühl, Subjekt der Geschichte zu sein, das sollte nichts mehr bedeuten.

Die „Bewegung“ begann zu zerfallen. 1969 war erfüllt vom Kleinkrieg an den Universitäten, die ersten marxistisch-leninistischen Gruppen verlangten Kurzhaarschnitt, Legalisierung der Liebesverhältnisse und den Verzicht auf alles Antiautoritäre. Einerseits. Anderseits begannen die Freunde der Illegalität, mit dem Untergrund und dem Terror zu liebäugeln. Beide Seiten waren sich einig: Schluss mit der antiautoritären Bewegung. Sie war bürgerlich, kleinbürgerlich und überhaupt das Letzte. Zurück blieben die vielen Verzweifelten, die nicht weiterwussten, die weder zurück in die bürgerliche Karriere wollten, noch hinein in die Kaderorganisation oder in die Illegalität.

Als die SPD Ende ’69 an die Macht kam und Willy Brandt „mehr Demokratie wagen“ wollte, war die APO kein Ansprechpartner mehr. Die „Bewegung“ hatte sich selbst zerstört. Als die RAF zwei Jahre ihren Aufbruch in den Untergrund verkündete, hatte das wenig mit dem 68er-Lebensgefühl zu tun. Die RAF war nur ein Produkt aus der Chemie des Zerfalls.

Dass das Ehrengerichtsverfahren es an jenem 4. November ablehnte, Horst Mahler aus der Anwaltskammer auszuschließen, hatte keine politische Bedeutung mehr. 18 Monate später verzichtete Mahler selbst auf die Anwaltsrolle und verschwand in den Untergrund, um als Bankräuber wieder aufzutauchen.

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