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Walter Höllerer mit Sohn Florian, Max Frisch, Berzona (Tessin), September 1968

© Renate von Mangoldt/ Steidl Verlag

50 Jahre LCB: Keiner wird satt, deshalb kommen alle wieder

Elf Anekdoten aus dem literaturbetrieblichen ABC von A wie Arkadien bis Z wie Zigaretten zum 50-jährigen Jubiläum des LCB am Wannsee – in der Erinnerung prominenter Gäste.

Arkadien: Ich glaube, ich bin der Älteste unter den noch Lebenden des ersten Stipendienjahrgangs des LCB, und wir fühlten uns noch in der Carmerstraße zu Hause. Das LCB am Wannsee lernte ich erst richtig kennen, als Born nach Berlin, frisch geschieden, aus Essen zurückkam. Er fand dort eine Bleibe. Ich wohnte im Haus nebenan bei einem alten Annoncenakquisiteur. Ich schrieb damals mit Preludin und Korn in der Frühe vier, fünf Seiten Prosa und schmiss sie abends weg. Born schrieb Gedichte. Gegen Mittag schwamm ich zu ihm rüber. Wir gingen am Bahnhof Wannsee frühstücken. Nachmittags brachen wir (O-Ton Born) zu einer Wanderung auf. Und fuhren abends mit der S-Bahn in die Stadt, aßen bei Reimann am Savignyplatz ein Bauernfrühstück, trafen Mädchen oder spielten mit Buch, der nie verlieren konnte, das aber immer witzig, Mau-Mau. Es war eine schöne Zeit. Hermann Peter Piwitt

Bild der Gruppe 47. Im großen Saal hängt ein großes Schwarz-Weiß-Foto, das eben dort während der Tagung der Gruppe 47 aufgenommen wurde, wohl im Jahr 1965. Ist es Richter, der einem den Rücken zuwendet und sich am Kopf kratzt? Fried, der zur Seite sieht, Unseld, der kritisch, und Fichte, der begeistert schaut? Mehrere Schriftsteller tragen weißes Hemd und Krawatte; die Luft scheint verraucht zu sein. Alles auf dem Foto sagt mir immer, dass es lange her ist. Und dass ich womöglich etwas falsch mache. Leider sagt es nicht, was genau. Junge Frau, ihr Erstlingswerk wird zu Recht gefeiert, gibt mir die Hand. Sie sagt: Wann schrieben Sie Ihr erstes Buch …? Ich gebe Auskunft, ich bin umständlich, weil sie schön ist. Mitte der Neunziger, sage ich. Zwei Jahrzehnte vergangen. Ich hätte schummeln können, sie kennt mich nicht. Mein Lob für ihr Buch prallt an ihr ab. Kommen und Gehen im Frühstücksraum. Feine Kollegen aus dem Ausland, was ein schönes Deutsch sie doch sprechen. Junge Debütantin legt eine einzige Scheibe Tilsiter auf ihren Teller. Eine Scheibe? Ja, eine Scheibe. Sie grüßt uns knapp, setzt sich allein an einen Tisch. Kaut langsam, schaut hinaus, träumt. Die Grazie in der Stunde ihrer leichten Bekümmerung. Ein feiner Kollege flüstert: Mein Gott, sie sieht aus wie meine Schwester. Feridun Zaimoglu

Balkon, Parkett, Buffet

Entdeckung. Man fand den Jungautor am Morgen auf dem Balkon: schlafend, halbnackt, im Kreis seiner Freunde, gleich einem Faun nach einem Bacchanal. Ich stellte fest, dass es Zeit für einen neuen Mann war und musste noch einmal Halt machen beim alten. Es parkte der große Wagen für einen Abend über der Terrasse. Gerade lang genug für eine Fahrstunde von Format. So war mein gesamter Aufenthalt, ein Sommer im LCB: eine E. nach der anderen. Nora Gomringer

Fahrrad. Wer wie ich bisweilen mit dem F. den weiten und eintönigen Weg aus Kreuzberg anreist, der läuft in seiner Trance Gefahr, plötzlich über das schöne Parkett des Hauses zu rollen. Schon ist er wieder zur Terrassentür hinaus, saust in hohem Bogen den Hang hinab und plumpst in den See. Ich möchte doch behaupten, dass diese Art von Gedankenverlorenheit dem Beruf des Schriftstellers durchaus innewohnen darf. Jan Peter Bremer

Frühstücksbuffet. Beim F. nicht allein zu sitzen, war schon mal ein guter Start in den Tag. Matthias Göritz trank seinen Kaffee und fragte mich, ob ich denn heute Abend zur Lesung käme. „Was für ne Lesung?“ „Wolf Haas“, sagte er. „Och nö. Ich hasse Krimis.“ Hin und wieder saßen neben uns Stipendiaten auch andere Gäste im Frühstücksraum. Dass an diesem Tag ein Mann mit kurzen Haaren zeitgleich mit uns an seinem Brötchen würgte, am Tisch in der Ecke, das fiel mir erst auf, als ich Wolf Haas’ Bild auf einem Plakat sah. Deckungsgleich mit dem Gesicht jenes Manns vom Frühstück. Obwohl er mich gehört haben musste, hatte er sich nichts anmerken lassen. Als wäre es eine Szene aus einem seiner Romane. Die ich erst später las. Mit wachsender Begeisterung. Sorry, Wolf, hätte ich deine Bücher damals gekannt, wäre ich bestimmt zur Lesung gekommen. Markus Orths

Anrufe, Kleist, Lesungen

Humor.Der Anruf. – Das Colloquium. – Was wollen die von mir? – Die fragen: „Lesung?“ – Ich: „Rufe zurück!“ – Telefonbuch, Nummer, Rückruf: „Stellt Euch vor, eben hat jemand angerufen und mich gefragt, ob ich bei Euch lesen würde!“ – „Ja. Das waren wir.“ – „Aber Ihr wisst doch, was ich mache. Meine Texte sind humorinfiltriert, kleine Eseleien der Narretei, Pointen-Ponys, die sich schweren Schrittes durch die Sägespäne beim Schützenfest schleppen. Keine Flügel, nicht mal Pferde.“ – „Da ist gerade Messe und keiner da.“ – Ich: „Verstehe.“ – Lese. Jakob Hein

Kleistizid. Zur Halbhundertjahrfeier geplantes finales Happening, bei dem 50 auserwählte Doppelselbstmorde in der Manier des Heinrich einmalig an sinnträchtiger Stelle mit Hinüberblick zum Colossalium vollzogen werden. Am Henrietten-Casting arbeitet das vertrauenswürdige preußische Team des LCB. Wegen der ungemeinen Zielschärfe der deutschen Literatur werden Kalaschnikows ausgegeben. Kein Bewerber, nirgends. Thomas Lehr

Lesung. Öffentlich aus Büchern vorlesen? Das ist in China nicht üblich. Erst in Berlin habe ich gelernt, wie ein Buch samt Autor schmeckt, seither kann ich davon nicht mehr genug kriegen. 2002 wurde ich in die Werkstatt des LCB aufgenommen. Zum Abschluss sollten wir öffentlich vorlesen. Wortbergklettern vor hundert Zuhörern? Ich zog mein bestes Kleid an. Ich schwitzte, stolperte, rannte. Als ich den Berg hinter mir sah, jubelte ich: Hurra, LCB! Hier lernt man Wortberge bauen – und sie auch zu ersteigen Luo Lingyuan

Hauptstadt, Salzstangen, See

Nervenzentrum. Das Literarische Colloquium Berlin fungiert als ein N. der ganzen deutschsprachigen Literatur. Hier begegnen sich nicht nur die Autorinnen und Autoren: hier finden sie sich selbst, undnicht zuletzt deshalb ist für die meisten von ihnen, seien sie Österreicher oder Schweizer, Bayern oder Sachsen, Berlin ganz selbstverständlich die Hauptstadt der Deutschen Literatur. Peter von Matt

Salzstangen. Der Hunger nach getaner Arbeit ist ja regelmäßig immens, deshalb hält ein guter Gastgeber stets einen unerschöpflichen Vorrat an S. und Erdnussflips bereit. Nirgendwo schmecken sie besser als an der zweifellos sehr schattigen Bar des LCB. Keiner wird satt, aber eben deshalb kommen alle wieder. Sind nicht regelmäßig diejenigen Erinnerungen die leuchtendsten, mit denen sich ein gewisser Mangel verknüpft? Michael Kumpfmüller

Schnellfeuergewehre. Unvergessen, wie die beiden nicht nur an den Hüften umfangreichen Schriftsteller Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell für einen Film von Uwe Brandner mit umgehängten S. über den Bootssteg neben dem Grundstück des LCB gehen mussten und wie deshalb ein Ausflugsdampfer nicht anlegen wollte aus Angst vor dem Russen. Michael Krüger

Sex, Wirklichkeit, Rauchen

Sex. Wort, das nach gefühlter Wahrnehmung im LCB-Textuniversum eher auf den hinteren Rängen sein Dasein fristet. Dabei hat Ulli Janetzki eindeutig Sexappeal. Das LCB ist, genau wie Berlin, arm, aber sexy. Manchmal, bei Lesungen, wenn es vielleicht zu langweilig wird, denke ich gern darüber nach, wie dieser Autor dort oben eigentlich im Bett so wäre. Ein guter Liebhaber? Oder ein Ich-muss-noch-mal-schnell-was-aufschreiben-Wegspringer? Dann sitzt da Denis Johnson mit seiner ganzen bulligen Ex-Junkie-, Ex-Soldat-Feinnervigkeit und für Augenblicke scheinen S. und Literatur eins zu werden. Larissa Boehning

Turmzimmer. Ständig treffe ich Autoren, die mir weismachen wollen, dass sie „im T. wohnen“, sie kommen zu mir, um es mir, mit leicht glasigem Blick, zu sagen. Ich wohne diesmal im T., sagen sie, was wohl bedeuten soll, dass sie beim letzten Mal nicht im T. gewohnt haben, sie sind also besser geworden, sie können sich jetzt das T. leisten, aber was heißt das, sie sind besser geworden, keiner weiß so genau, was das heißt, aber sie sitzen im T. wie ein Seemann in seinem Ausguck, und sie rufen den anderen zu: Land, ich sehe Land, vielleicht ist das der ganze Sinn des T.s, dass sie, die es so weit gebracht haben, da sitzen und rufen können, denn einer muss es ja tun. Volker Sielaff

Wasserglas. Die traditionelle Lesung unterscheidet sich von moderneren Vortragsformen wie der Performance, dem Poetry Slam oder dem Poesiefilm durch ein in Reichweite des Autors aufgestelltes W. Dieses sollte vor Veranstaltungsbeginn gefüllt werden, damit der Autor nicht während der Lesung mit Schraubverschlüssen, schweren Flaschen oder Karaffen hantieren muss. Ungeschicktes Hantieren könnte beim Publikum den Anschein erwecken, dass es sich doch um ein Happening handelt. Von Vorteil ist, wenn der Autor sich beherrscht und nicht aus dem W. trinkt. Nichts verdirbt eine Lesung so sehr wie gierige Schluckgeräusche des Dichters, nichts trägt so sehr zu ihrem Gelingen bei wie ein gut gefülltes W., das unberührt dasteht: Nur dann ist der Autor von seinem eigenen Text gefesselt, nur dann kommt Intensität auf, nur dann herrscht interesseloses Wohlgefallen. Marion Poschmann

Wirklichkeitsgesättigt.Ein Begriff, der hier geprägt worden sein könnte, als Lachnummer, versteht sich, als es um Wirklichkeitshunger ging. Marcel Beyer

Zigaretten. Im LCB durfte ich einmal eine Zigarette mit Monika Maron rauchen. Eine Zigarette mit Katja Lange-Müller, eine Zigarette mit Burkhard Spinnen. Eine mit Peter Bichsel, eine mit Wolfgang Hilbig, eine mit Reinhard Baumgart, obwohl Reinhard Baumgart eigentlich nicht geraucht hat, nur manchmal geraucht hat. Ich durfte unzählige Z. mit den Stipendiaten einer Werkstatt rauchen, wir rauchten im holzgetäfelten Saal, im Lesesaal, in der Bar, im Wintergarten, auf der Terrasse, auf dem Weg zum See, auf dem Weg zurück vom See zum Haus. Der Blick vom Seeweg hoch zum Haus! Lichter und Stimmen. Und rauchend darauf zu. Sprechend, schweigend, rauchend. Heute raucht niemand mehr. Manchmal drei kleine blaue Rauchwolken auf der Freitreppe im Winter, eine Reminiszenz. Texte müssen das jetzt alleine tragen, Sucht, Feuer, Poesie. Judith Hermann

Zusammenarbeit. Eine Kritikerin, ein Autor und ein Lektor sind mal über die Brüstung geklettert und ins Wasser gesprungen. Die Kritikerin war am nächsten Tag erkältet.Katy Derbyshire

Wir entnehmen diese Texte mit freundlicher Genehmigung des LCB dem in den nächsten Tagen erscheinenden Jubiläumsband S-Bahn nach Arkadien. Das LCB in Wort und Bild. Mit Fotografien von Renate von Mangoldt und Tobias Bohm. Gestaltet von Judith Schalansky. Matthes & Seitz, Berlin 2013. 224 S., 19,90 €.

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