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Vor 30 Jahren. Bruno Ganz und Jutta Lampe in Klaus Michael Grübers "Hamlet"-Inszenierung von 1982.

© ullstein bild

50 Jahre Schaubühne: Zu Luft wird hier der Raum

Die Schaubühne feiert Geburtstag: ein kurzer Rückblick auf ein halbes Jahrhundert Berliner Welttheaterleben.

Ein halbes Jahrhundert, das ist eine unhandliche Größe. Es ist mehr als eine Generation, eigentlich schon fast zwei Generationen, aber im Allgemeinen weniger, als ein Menschenleben dauert. Im Theater, wo früher einmal der Moment so viel mehr zählte, gibt es ohnehin eine eigene Zeitrechnung. Große Ensembles genießen eine Blütezeit von sieben bis zehn Jahren, selten länger. Ähnliches kann man von Intendanzen sagen: Als Lebensstellung sind sie nicht gedacht. Dagegen stehen die Fliehkräfte des Theaterwachsens und -vergehens.

Fünfzig Jahre Schaubühne, das ist kein einfaches Jubiläum. Und wozu in die Vergangenheit blicken? An diesem Wochenende spielt die Schaubühne, inschallah, in Ramallah Shakespeares „Hamlet“ in der Inszenierung von Thomas Ostermeier, mit Lars Eidinger in seiner alles dominierenden Prinzenrolle. Kein leichtes Gastspiel im Westjordanland, und umso wichtiger. Ein anderer „Hamlet“ liegt 30 Jahre zurück – die recht statische Interpretationsverweigerung von Klaus Michael Grüber mit Bruno Ganz. Damals, 1982, war die Schaubühne noch neu am Lehniner Platz, das ganze Theater schien mit dem Mendelsohn-Bau zu fremdeln. Zwei Jahre zuvor war das Theater vom Halleschen Ufer in Kreuzberg, dem heutigen HAU 2, an den oberen Kurfürstendamm gezogen.

Natürlich drängt sich beim Jubiläum eines so berühmten Theaters das illustre Personal auf: Regisseure, Bühnenbildner, Schauspieler, Dramatiker und Dramaturgen; mit Botho Strauß hatte die Schaubühne eine Zeit lang das eine wie das andere. Man könnte die Geschichte entsprechend an Inszenierungen verfolgen. Bei der Schaubühne aber bietet sich eine Biografie der Räume an. Weil sie nie ein Stadt- oder Staatstheater im herkömmlichen Sinn war, hat sie im Grunde wie eine freie Gruppe – so fing es ja auch an – um eine ihr angemessene Theaterarchitektur gekämpft. Der Raum wurde ihr zur Zeit. Und dann auch nicht. Dann hat die Zeit den Raum bedrückt, verkrümmt.

Auftakt am 21. September 1962 mit dem brasilianischen Volksstück „Das Testament des Hundes oder Die Geschichte der Barmherzigen“. Zur gleichen Zeit tut sich in London eine Gruppe von Musikern unter den Namen Rolling Stones zusammen, in Oberhausen veröffentlichen deutsche Jungfilmer ihr Manifest, und ein gewisser Friedrich Luft schreibt: „Diese Truppe und ihr Theater sollten lange leben!“ Ende der 60er, Anfang der 70er treffen Peter Stein und seine Leute in Berlin ein. Man spielt Brecht, Handke, Ibsen, Kleist. Bereits 1974 schreibt Benjamin Henrichs, fast noch ein Junge: „Die Schaubühne leidet unter der Anstrengung, ein Mythos zu sein.“ Die Phase der Expansion hatte begonnen. Das große „Antikenprojekt“ fand in den Messehallen statt, das Hallesche Ufer war längst zu klein geworden für die Truppe, die vom Living Theatre bis zu Grotowski alles aufnahm und aufsog, was das Welttheater hergab.

Die Siebziger waren die goldenen Jahre, nicht nur für die Schaubühne. Ob Peter Brook oder Ariane Mnouchkine, überall wurden die Revolutionäre und Visionäre ansässig. Ästhetik und politisches Engagement standen nicht gegeneinander, sondern wurden gemeinsam behauptet. Der Begriff Welttheater verbreitete sich. Nichts war unvorstellbar und alles darstellbar. Theatersäle reichten nicht mehr aus, um die Bewegung zu erfassen. Peter Stein ging 1976 mit „Shakespeare’s Memory“ in die CCC-Studios, Grüber kaperte 1977 das Berliner Olympiastadion mit seiner „Winterreise“ zu Hölderlin. Meredith Monk ließ 1980 für ihre Performance „Vessel“ das Publikum durch halb West-Berlin kutschieren – während Robert Wilson mit „Death, Destruction & Detroit“ das Hallesche Ufer technisch-künstlerisch zum Platzen brachte und Bilder schuf, an die sich Besucher heute noch erinnern. Dass Theater Raum-Kunst ist, weiß keiner besser als Wilson. Er war in der Lage, die Schwerkraft zu besiegen.

Die ersten beiden Schaubühnen-Jahrzehnte waren von mächtiger Ausdehnung geprägt. Damit landete das von Jürgen Schitthelm geleitete Theater – er gibt jetzt nach 50 Jahren die Geschäftsführung ab – im neuen Haus. Wenn Träume wahr werden, geht das manchmal schief. Statt größerer Freiheit wirkte das ehemalige Kino Universum wie ein Gefängnis. Das Schaubühnen-Theater wurde lange nicht glücklich, verlor sich nach Peter Steins krachend stillosem Abgang in Zwischenlösungen, Pleiten, Ungewissheiten.

Unvergessen die Begehung der Baustelle 1980 mit dem Architekten Jürgen Sawade: Der Raum öffnete sich riesig, wie ein Flugzeughangar, Hubpodien schienen den Besucher in den Himmel zu heben oder in die Hölle zu befördern. Nur haben die Theaterleute diesen ausgedehnten Raum nie wirklich genutzt. Bei Steins „Drei Schwestern“ lagen zwischen Bühne und Horizont angeblich 50 Meter, da war der leere Raum nur Illusion, es wurde kokett mit den Möglichkeiten gespielt. Erst 1999/2000 haben neue Chefs die Trennwände hochgezogen und die großartige Perspektive aufgezeigt: Sasha Waltz’ Choreografie „Körper“ und Ostermeiers Inszenierung von Lars Noréns „Personenkreis 3.1“ markierten einen radikalen Einstand. Wieder waren Künstler aufgebrochen, so jung wie einst die Steinzeitmenschen, eine neue Schaubühne zu erfinden.

Doch dann fiel die Klappe wieder. Die Räume wurden enger und enger.

Kleine Besetzung, große Probleme. Verdreckte Wohnküche, schreckliche Welt. Es ist leicht, Ostermeiers Programm zu persiflieren. Er hatte ja recht, als er zum 40. Geburtstag der Schaubühne schrieb: „Wir brauchen heute einen neuen Realismus. (...) Das Theater darf die Realität der Beschleunigung nicht ausblenden.“ Globalisierung, mit einem Wort. Seltsam, wie das Theater sich in den letzten zehn Jahren auf immer kleinere Abmessungen zurückgezogen hat. Auf die Phase der ungezügelten Expansion folgte das Schrumpfen und Zusammenschnurren einer uralten Kunst, die sagt: „Wir sind auch noch da. Wir haben unsere digitale Lektion gelernt.“ Das neue Muster war die Parzelle, der kurze Theaterabend im 90-Minuten-„Tatort“-Format, während Stein und Co. ihre Fans mit Sechsstündern begeistert und gequält hatten. War einst Überlänge ein Ausweis von überragender Qualität, so ist die Kurzfassungsmentalität zum Zeichen des Zeitgenössischen geworden.

Das sind Verallgemeinerungen, doch es macht die Beobachtungen nicht falsch. Die Schaubühne ist ein exponiertes Theater, Entwicklungen lassen sich hier deutlicher ablesen als anderswo. Sie war Vorreiterin des brutalen, anfangs befreienden Klein-Klein, das Ostermeiers Leute in der Baracke des Deutschen Theaters entwickelt hatten. Wie viele Bühnen haben es ihr nachgetan. Heute hat es die Schaubühne schwer, sich immer wieder neu als das Besondere zu definieren, das man von ihr erwartet. Es ist nicht metaphorisch gemeint, sondern als Architekturkritik: Die Luft am Lehniner Platz ist dünner als zum Beispiel im Deutschen Theater.

Und das liegt nicht nur am Fehlen der Kronleuchter, der Plüschsitze, des Goldschmucks. Die Luft in der Schaubühne scheint voller mythischer Schwebstoffe zu sein und dabei frischer, freier. Gäbe es Feng Shui für Theaterräume, es ließe sich wohl irgendwie messen. In dieser Luft liegt ein Versprechen, wie Peter Brook es in seinem Manifest „Der leere Raum“ formuliert hat: „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“

Wenn man einer 50-jährigen Bühne noch immer eine solche Nacktheit attestiert, dann muss sie spezielle Gene haben. Und Zukunft.

Zum Jubiläum erscheint im Verlag Theater der Zeit der Prachtband 50 Jahre Schaubühne. 1962 – 2012, hg. von Jürgen Schitthelm, 600 Seiten, 585 Fotos, 40 Euro.

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