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Tintorettos Gemälde "Marias Tempelgang", um 1552.

© akg-images / Cameraphoto

Eine Winterreise zum 500. Geburtstag des Renaissance-Malers: Auf den Spuren Jacobo Tintorettos

Er porträtierte die Mächtigen und setzte mit seinen monumentalen Schöpfungen Maßstäbe. Eine Winterreise nach Venedig auf den Spuren Tintorettos. Im kommenden Jahr wird sein 500. Geburtstag gefeiert.

Venedig ist an diesem trüben, regnerischen Mittwochmittag zwischen den Jahren eine ausgestorbene Stadt. Zumindest hier, an der Vaporetto-Haltestelle Madonna Dell' Orto, auf dem Weg zu der gleichnamigen Kirche im Stadtteil Cannareggio, auf dem Weg gewissermaßen durch ihren Hinterhof. Kein Mensch ist unterwegs in den Straßen mit ihren glänzenden, feuchtglatten Pflastersteinen, viele Fensterläden sind geschlossen, der Regen lässt die unterschiedlichen Farben der Häuser gleichtönend schmutzig wirken, die tief hängenden Wolken tun ein übriges. Venedig kann auch sehr trist sein, von dem viel und oft beschworenen Licht der Stadt ist nichts zu sehen. Immerhin gibt es auf dem Vorplatz der Chiesa Madonna dell' Orto, der noch die mittelalterliche Pflasterung mit im Fischgrätenmuster verlegten Ziegelsteinen aufweist, ein gewisses Kommen und Gehen. Eine Reiseführerin baut sich hier vor ihrer Gruppe auf, dort strebt gleich ein Dutzend Nonnen in blauweißer Tracht dem Eingang der Kirche entgegen.

Für außergewöhnliches Licht, eines von fast metaphysischer Bedeutung, sorgt dann erst eines der sieben Gemälde des Renaissance-Malers Jacobo Tintoretto im Innern der Kirche. Es hängt ganz hinten rechts vom Altar über dem Eingang zu einer Kapelle und heißt „Der Tempelgang Mariens". Dieses Bild ist vielleicht nicht eines der großartigsten, überwältigendsten von Tintoretto, da mögen allein die im Presbyterium der Kirche hängenden „Anbetung des goldenen Kalbs“ und „Das jüngste Gericht“ mehr hermachen, in puncto Wildheit, Vielschichtigkeit und Explosivität. Aber „Marias Tempelgang“ ist sicher eines seiner faszinierendsten. Was unter anderem daran liegt, dass hier alle Blicke der Figuren nach oben gehen, die Treppe rauf. Auf dieser steht in der Mitte die kleine Maria mit ihrer Mutter. Sie wirkt zögerlich, weil sie endgültig ihrer Bestimmung dargebracht werden soll, dem bärtigen Priester entgegen. Ihre Mutter jedoch weist ihr bestimmt und selbstbewusst den Weg. Vor allem jedoch der diagonale, klare Lichteinfall macht das Bild so faszinierend. Er durchschneidet es in zwei Hälften und fokussiert sich auf den beiden Hauptfiguren, auf Mutter und Tochter.

In Venedig ist immer Tintoretto-Saison

Obwohl neben der Nonnengruppe noch ein paar andere Besucher in der Madonna Dell' Orto umhergehen, erstaunt es, wie wenig los in der Kirche ist. Selbst im Sommer verhält sich das nicht viel anders, zumal Cannareggio sowieso zu den eher ruhigen Stadtvierteln Venedigs zählt. Dabei findet sich hier neben den Gemälden überdies das Grab mitsamt Familiengruft Tintorettos, eines der bedeutendsten und sicher venezianischsten Malers, den die Stadt hervorgebracht hat. Im September nächsten Jahres jährt sich Tintorettos Geburtstag zum 500. Mal, vielleicht auch erst 2019, die Quellenlage ist da nicht eindeutig (in der Madonna Dell' Orto wird zweimal 1519 als sein Geburtsjahr angegeben, in der Gallerie dell' Accademia wiederum steht unter den hier versammelten Tintorettos 1518).

Würden andere Städte wegen so eines Jubiläums weit im Voraus riesige Festspiele veranstalten, hat Venedig das nicht nötig. Hier ist immer Tintoretto-Saison. Bis zu seinem Tod im Jahr 1594 hat Tintoretto die Stadt überhaupt nur wenige Male verlassen. Zeit seines Lebens hat er in Venedig gemalt und in seiner Werkstatt malen lassen, fast tausend Werke sollen es sein. Nach einer kurzen Lehrzeit bei Tizian, neben Veronese einem seiner größten späteren Konkurrenten, rang er in Venedig zunächst verbissen um die Anerkennung bei Dogen, Adel, Bruderschaften und dem höherem Bürgertum.

Allein die Scuola Grande di San Rocco, gelegen nicht weit von der Frari-Kirche im einstigen Handelsviertel San Polo, ist mit über sechzig großformatigen Wand- und Deckengemälden ein einziges Tintoretto-Museum. Was passt: Das Malen für die Schule der Rochusbruderschaft, die sich den Schutz der Pestkranken zur Aufgabe gemacht hatte, bedeutete für Tintoretto den endgültigen Durchbruch. Er entschied einen von der Schule ausgeschriebenen Wettbewerb für ein Deckenbild in ihrem Sitzungsraum dadurch, dass er der Bruderschaft seine „Apotheose des heiligen Rochus“ einfach schenkte, um danach auch die kleineren, das Oval seines Bildes umgebenden Decken mit Allegorien unentgeltlich zu bemalen. In den folgenden Jahrzehnten stattete er das Erdgeschoss und den Kapitelsaal der Scuola der Rochusbruderschaft mit Gemälden aus, erst für wenig Geld, später mit einer Leibrente versehen.

"Bei mir gibt es Originalwerke zum Preis einer Kopie"

Es ist dieses unbedingte Machtbestreben, dieses Buhlen um die Gunst von wichtigen Entscheidungsträgern der Stadt (das ihn bald auch im Dogenpalast wirken ließ), das Tintoretto ausgezeichnet hat. Dazu seine Konzentration auf diese besondere Mischung seiner Bilder: die Farben Tizians kombiniert mit den Proportionen eines Michelangelos, die diffus-besonderen Raumverhältnisse, unruhige Lichteinfälle, dysproportionale Figuren, verschiedene Erzählebenen und nicht zuletzt häufige kleine Gimmicks. Einerseits. Denn zur Macht und der ihm eigenen Ästhetik gesellte sich schon bald der Markt, die Ökonomie.

Trotz solcher Schenkungen (und gerade der Pleite einige Jahre zuvor mit seinem „Sklavenwunder“-Gemälde für die Markus-Bruderschaft, die ihn weder großartig entlohnte noch aufnahm) entwickelte Tintoretto im Verlauf seiner Karriere einen strategisch weitsichtigen Geschäftssinn. Er verstand sich nicht nur auf die Monumentalmalerei, sondern malte und lieferte schnell Porträts, führte Auftragsarbeiten routiniert durch, mit Hilfe zahlreicher Werkstattgehilfen, darunter zwei seiner Söhne und einer Tochter. Und er ließ Bilder in Serie gehen, allerdings immer leicht abgeändert, mit unterschiedlichen Figuren oder jeweils spiegelverkehrten Kompositionen: „Bei mir kann man ein Originalwerk zum Preis einer Kopie erwerben“, soll er gesagt haben. Oder, wie es sein Bewunderer Jean-Paul Sartre auf den Punkt brachte: „Er macht keinen Unterschied zwischen ökonomischer Unabhängigkeit des Produzierens und künstlerischer Freiheit…“

Der Gewöhnung an die vielen Tintoretto-Werke in der Stadt, der unermüdlichen Produktivität dieses Meisters, dürfte es zu verdanken sein, dass sich selbst vor der Scuola Grande di San Rocco nur selten Menschenschlangen bilden. Dass man an diesem Mittwoch kurz vor Silvester zwar schlotternd, weil es kalt ist in dem Gemäuer und zieht, aber eben in Ruhe und oft allein vor einem einzelnen Werk stehend die Tintorettos betrachten kann. Was sich wiederum bei den doch düsteren Lichtverhältnissen als nicht nur einfach und genussbringend darstellt und einiges Konzentration abverlangt (zumal ein paar Stunden kaum ausreichen dafür). An der nahe der Madonna dell' Orto gelegenen Fondamenta die Mori ist das nicht anders. Ganz in weinrot gestrichen präsentiert sich das Haus mit der Nummer 3399. Hier wohnte Tintoretto mit seiner Frau und den zehn Kindern, hier hatte er seine Werkstatt – und hier ist heute kein Mensch zu sehen. An der Gedenktafel für ihn bröckelt es bedenklich unten in der Datumszeile der Anbringung (1881).

Es ist ein seltsames Zeitgefühl in dieser Stadt

Womöglich liegt diese Ruhe vor den Tintoretto-Pinselstürmen- und- Stätten schlichtweg auch an dem schlechten Wetter, das allein den Bewohnern der Stadt nichts ausmacht, so fix regenschirmbewehrt wie sie sind. Die von unablässig mit Geschäften gesäumten und mit den notorischen gelben Hinweisschildern versehenen Tourismusrouten zwischen Piazzale Roma, Bahnhof, Rialto-Brücke und Markusplatz sind zwar wie gehabt gut gefüllt. Doch es geht anders als im Sommer zügig voran. In den Seitenstraßen aber regiert eine berührend schöne Verlassenheit. Hier wirkt es, als würden die Einheimischen Luft holen, zu sich selbst zu kommen, sich ihrer eigenen Gegenwart versichern, nicht nur die der Touristen. Sich plötzlich allein auf dem breiten Trottoir zwischen den Bootsanlegestellen Zattere und San Basilio wiederzufinden, hat seinen Reiz, sicher auch für die Venezianer und Venezianerinnen. Oder im frühmorgendlichen feuchten Dunst nach dem nächtlichen Regen kaum herüber nach Guidecca schauen zu können. Venedig kann sehr kalt und regnerisch sein. Trotzdem ändert selbst so eine ungemütliche Wetterlage nichts an diesem seltsamen Zeitgefühl, das einen in dieser Stadt ständig begleitet. An diesem Gefühl, durch Jahrhunderte geschleust und der schockierenden Kleinheit seiner Existenz bewusst zu werden (was Pracht und Schönheit Venedigs aufzuwiegen wissen).

Zurück in der Gegenwart haben Tage wie diese für andere ihre ganz eigenen Tücken. Auf der – sowieso gerade eingerüsteten – Brücke zur Accademia sind keine Smartphone-Stick-Verleiher zu sehen, bei Regen ist das wenig erfolgversprechend. Und die schwarzafrikanischen Migranten, die sich im Stadtteil Dorsoduro an strategisch günstigen Punkten zum Betteln postieren, wirken noch verlorener als sowieso. Einer von ihnen allerdings, aus Nigeria stammend, muss sich um die Touristenströme und wann diese etwas abwerfen, nicht mehr scheren. Der Mann verdient sich sein Geld als Küster der Kirche San Trovaso. In die verliert sich, gelegen im Rücken der Accademia und der Kirche Santa Maria della Salute. Mit seinen Rastalocken, einem Mantel, enger schwarzer Jeans und Turnschuhen versieht dieser Küster sein Amt, gewissenhaft, fast ein wenig unerbittlich. Er weist sofort darauf hin, kaum ist man durch den Eingang geschlüpft, doch bitte die Mütze abzunehmen. Und nach einiger Zeit verwehrt er auch den Zugang zu einer der seitlichen Kapellen, in der – neben der „Versuchung des heiligen Antonius“ in einem anderen Teil der Kirche – ein weiteres Tintoretto-Gemälde hängt: „Das letzte Abendmahl“.

Eines von Tintorettos Abendmahlen gibt es in der Kirche San Trovaso

Das Abendmahl hat Tintoretto in seinem Leben mehrmals gemalt. Anders als zum Beispiel das ungleich berühmtere, im Benediktinerkloster San Giorgio Maggiore zu sehende, ist dieses hier dramatischer, wüster, vielschichtiger. Jesus sitzt, wie es sich gehört, in der Mitte des Bildes, vom göttlichen Licht angestrahlt, aber mit leicht verzweifelten Gesichtsausdruck, so als wolle er fragen, was das denn hier jetzt alles soll. Um ihn herum nämlich muss es ein heftiges Besäufnis gegeben haben, seine Jünger liegen mehr als dass sie um ihn herumsitzen. Vorn sind ein umgestürzter Baststuhl, eine Korbflasche und ein irgendwie gleichfalls angetrunkenes Kätzchen zu sehen, hinter Jesus scheint sich ein Tempel zu öffnen mit zwei ephemeren Gestalten und einem Ausblick in eine Landschaft hinein. Was überdies der andächtig sittsam am linken Bildrand stehende Knabe zu bedeuten hat, bleibt unklar, ein Geheimnis, ein Porträt als hidden Track.

Es steckt wirklich viel drin in diesem Bild, an Porträts, Farben, visuellen Wortspielen, Komik, Kirchenkritik und mehr, man kann gar nicht lang genug davor verweilen. Was jedoch dem guten Küster egal ist – und doch verbinden sich in diesem Moment dessen Gegenwart und die ewige Allgegenwart des 500 Jahre alten Tintorettos aufs Schönste, hier, in der Kirche San Trovaso, in dieser Stadt.

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