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Kultur: 51. Berliner Festwochen: Aufbruch aus der Romantik

Am Vorabend der Berliner Feierlichkeiten zur Eröffnung des Jüdischen Museums steht "Ein Überlebender aus Warschau". Steht eine Schweigeminute nach dem Verklingen des hebräisch gesungenen Liedes "Höre Israel", die dem Werk seit der Uraufführung 1948 in New-Mexico zuteil wird, weil sie gleichsam mitkomponiert ist.

Am Vorabend der Berliner Feierlichkeiten zur Eröffnung des Jüdischen Museums steht "Ein Überlebender aus Warschau". Steht eine Schweigeminute nach dem Verklingen des hebräisch gesungenen Liedes "Höre Israel", die dem Werk seit der Uraufführung 1948 in New-Mexico zuteil wird, weil sie gleichsam mitkomponiert ist. Die Unmittelbarkeit, mit der Arnold Schönbergs 99-taktiges Werk das Publikum trifft, ist geblieben. Der Bericht eines polnischen Juden über die Massaker im Warschauer Getto, die er als Todbestimmter verletzt überlebt hat, erzählt, wie eine Reihe von Todgeweihten zum Abzählen antreten muss. "In einer Minute will ich wissen, wie viele ich zur Gaskammer abliefere!" Die Stimme des Feldwebels dröhnt auf Deutsch, während das Melodram "A Survivor from Warsaw" - ein politisch-religiöser Text des Esoterikers Schönberg! - sonst in englischer Sprache gehalten ist. "They began again, first slowly: one, two, three, four, became faster and faster ..." Und dann, auf einmal, begannen sie, mit Macht das alte fromme Lied zu singen.

Über das Realismus-Genre hinaus hat die Komposition mit einer Zwölftonreihe zu tun, die aus der Melodie des Liedes kommt. Das alte Gebet, das bei keiner jüdischen Andacht fehlt, der vernachlässigte Glaube, die Bewusstlosigkeit, das Unterbewusstsein: Die Tiefenschichten gehorchen einer motivischen Struktur, obwohl die Musik bei flüchtigem Hören eher gestisch geprägt erscheint. Aus Erregung, Angst und menschlicher Herabwürdigung wird Gesang.

Ein minutenknappes Monumentalwerk, Passion und Utopie: So fangen die 51. Berliner Festwochen an, mit den Berliner Philharmonikern, mit Claudio Abbado und Dietrich Fischer-Dieskau. Dass die Rezitation des Sprechers in jedem Moment der Musik nahe ist, wenn er der Erinnerung nachhorcht und die Schläge der Grausamkeit nachvollzieht, die Rollen also im Wort wechselt, versteht sich aus dem Wesen des Interpreten. Trotzdem hält er sich an Schönbergs Mahnung, im gesprochenen Text nicht zu singen. Dann intonieren die Herren des Runndfunkchores Berlin das "Schema Isroël", und Fischer-Dieskau stimmt ansatzweise ein: Zu erleben ist eine Ambivalenz zwischen Identifikation und Scheu vor der Identifikation.

Der Schönberg-Abend setzt sich mit dem Klavierkonzert fort, das Peter Serkin musiziert, der Sohn des legendären Pianisten und Schönberg-Schülers Rudolf Serkin. Die Virtuosität des Solisten dient der Virtuosität, mit der die Komposition nunmehr - 1942 - das Zwölftonsystem behandelt: Spielfreude ist darin, Poesie und Grazie. Dann schlägt mit "Pelleas und Melisande" die große Stunde Claudio Abbados. Wieder, wie schon bei der "Tristan"-Produktion, modelliert er am Orchesterklang, indem er die Bratschen vorn links (vom Zuschauer aus) spielen lässt mit den Kontrabässen dahinter. Das intensiviert die dunklen Klanggründe einer Programmmusik nach Maeterlinck, die nicht den Text illustrieren will, sondern aus den inneren Situationen kommt: Waldszene, Melisandes erste Begegnung mit Pelleas, Springbrunnen, Liebesszene, Golos Eifersucht, seine Drohung in der Tiefe des Schlossgewölbes, Abschied der Liebenden und Tod. Die Symphonische Dichtung ist sowohl Wagners "Handlung" wahlverwandt als auch ihrer Chromatik und sogar ihrem Instrumentalklang, der von der traurigen Weise des Englischhorns - was für ein Stück für Dominik Wollenweber! - bestimmt wird. Abbado dirigiert den Aufbruch aus der Romantik, als habe er Mahlers "glühend Messer" in der Brust und setzt hinter die grandiose Aufführung tönendes Schweigen.

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