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Was macht das Pferd auf der Straße? Der israelische Film "Tikkun" erzählt von der Selbstentfremdung eines orthodoxen Juden - in hyperrealistischen Schwarzweiß-Bildern.

© Filmfest Locarno

68. Filmfest Locarno: Requiem für ein Phantom

Verquere Liebe, verlorene Helden: Das 68. Filmfest im schweizerischen Locarno zeigte Bilder einer entfremdeten Welt. Eine Festivalbilanz.

Wenn man sich jenseits des Trubels auf der Piazza Grande in die verwinkelte Altstadt oder auf den schönen Uferwege am Lago Maggiore begibt, wirkt Locarno fast wie eine Geisterstadt. Seit Jahren fällt das prunkvolle Grand Hotel, einst beliebter Festivaltreffpunkt, in sich zusammen, Villen stehen leer, ebenso moderne Appartementanlangen mit Blick auf den türkis schimmernden See, auf deren Balkonen kein Pflänzchen und kein Sonnenschirm zu sehen ist. Es ist eine traurige Ansammlung von Spekulationsobjekten, eine abweisende, sinnentleerte Investmentwüste, die auch die Kulisse eines der Festivalfilme hätte abgeben können.

Die 68. Ausgabe von Locarno war tatsächlich ein Festival der Geisterlandschaften und Entfremdungsszenarien. Phantome und Gespenster bevölkerten die Leinwände, Menschen, die den Anschluss verloren haben, denen etwas abhanden gekommen ist. Und doch: Nie ging man mit einem beklommenen Gefühl aus dem Kino und fühlte sich mit der Tristesse allein gelassen. Vielmehr sah man sich Filmen gegenüber, die den Zuschauer im positiven Sinne herausfordern – nicht zuletzt in der Retrospektive des Festivals.

Die tolle Retrospektive war Sam Peckinpah gewidmet

Sie galt Sam Peckinpah, dessen Filmografie sich als eine andere, sehr gewalttätige Americana-Erzählung begreifen lässt. Quer durch die Genres sind bei ihm Bildtableaus zu finden, die von einer untergegangenen Mythopoetik künden. Wenn Steve McQueen in „The Getaway“ aus dem Gefängnis entlassen wird, lehnt er sich an einen Mast, an dessen Spitze die US-Flagge weht, hinter ihm erstreckt sich die texanische Einöde. In den Western „Sacramento“ (1962) und „The Wild Bunch“ (1969) ist der Horizont nicht länger eine Projektionsfläche für Frontier-Sehnsüchte, er verliert sich im Nichts. Dem Westerner sind seine Landschaft und seine Zukunft entglitten.

Er sieht nicht mehr gut. Im amerikanischen Wettbewerbsbeitrag "Entertainment" tingelt ein alternder Comedian (Gregg Turkington) durch die Lande.
Er sieht nicht mehr gut. Im amerikanischen Wettbewerbsbeitrag "Entertainment" tingelt ein alternder Comedian (Gregg Turkington) durch die Lande.

© Filmfest Locarno

Mit einer ähnlich aussichtslosen Umgebung sieht sich der Comedian in Rick Alversons amerikanischem Wettbewerbsbeitrag „Entertainment“ konfrontiert. Der in die Jahre gekommene Clown tingelt durch das menschenleere Hinterland Kaliforniens, tritt in Bars, Altersheimen und Nachtclubs auf. Manchmal besucht er die Reliquien des alten Westens, ein historisches Cowboystädtchen oder ein Feld voller Öl-Bohrtürme, die schon lange nicht mehr pumpen. „Entertainment“ ist ein Roadmovie, das sich gemeinsam mit seinem Helden in einer Sackgasse namens Amerika verfahren hat.

"Tikkun" aus Israel erzählt, wie ein orthodoxer Jude mit seinem Glauben hadert

Alversons namenloser Held mag in dieser surrealen Wüstenparabel auf sich allein gestellt sein. Im Wettbewerb von Locarno fand er sich in bester Solidargesellschaft wieder, einer Art cineastischer Selbsthilfegruppe der einsamen Seelen. Auch im israelischen Wettbewerbsfilm geht die Kamera stets einen Schritt zurück, verharrt in der Totalen, um erahnen zu lassen, dass hier ein Leben aus dem Takt geraten ist. „Tikkun“, am Samstag mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, spielt im jüdisch-orthodoxen Milieu Tel Avivs und folgt einem jungen Mann, der die religiösen Rituale nur noch mechanisch ausführt. Beim Beten lässt er sich von einer Kakerlake ablenken, beim Duschen schaut er auf sein erigiertes Glied und fällt in Ohnmacht. Auch führt er ein geheimes Tagebuch, dem er seine Fantasien mitteilt. In Avishai Sivans schwarzweiße Bildkompositionen bekommen die Gegenstände des orthodoxen Lebens überdeutliche Konturen, wirken plötzlich bedrohlich – ein hyperrealistischer Effekt. Wenn der Held nachts durch die Gassen irrt, scheint die Umgebung wie aus der Zeit gefallen. Plötzlich läuft ein ungezäumtes Pferd durchs Bild. Ein Vision? Ein Bild der Sehnsucht? Des Ausbruchs?

In "Right Now, Wrong Then" lernt ein Filmemacher (Jung Jae-young) auf einer Reise eine junge Künstlerin (Minhee Kim) kennen. Sie kommen sich näher ... Der koreanische Regisseur Hong Sang-soo gewann den Goldenen Leoparden für seinen heiter-ironischen Liebesreigen.
In "Right Now, Wrong Then" lernt ein Filmemacher (Jung Jae-young) auf einer Reise eine junge Künstlerin (Minhee Kim) kennen. Sie kommen sich näher ... Der koreanische Regisseur Hong Sang-soo gewann den Goldenen Leoparden für seinen heiter-ironischen Liebesreigen.

© Filmfest Locarno

Der iranische Regisseur Sina Ataeian Dena registriert in „Paradise“ ebenfalls die Repressionen, die ein Milieu, eine Gesellschaft, ein Land deformieren. Er begleitet eine junge Lehrerin beim Unterrichten in einer islamischen Schule. „Paradise“ entstand über drei Jahre ohne Drehgenehmigung an verschiedenen Schulen und arbeitet mit überraschenden dokumentarischen Einblicken. Morgens stehen die Mädchen mit ihren Schleiern in Reih und Glied zum Kollektivgebet auf dem Schulhof. Als ein Ball über die Mauer fliegt, beginnt ein fröhliches Kicken. Auch das vehemente Pfeifen der Direktorin kann die Ordnung nicht wieder herstellen. Nach dem Unterricht folgt die Kamera der Lehrerin durch die Straßen und Vororte Teherans. In diesen inszenierten Momenten, die ein authentisches Lebensgefühl festhalten, scheint die Stadt mit ihrem lauten Verkehr seltsam entrückt. Jeder geht seines Weges, nur die Lehrerin hält plötzlich inne und blickt fragend auf. Entfremdung lässt sich hier als positive Bewegung verstehen.

Hong Sang-Soo aus Südkorea gewann den Goldenen Löwen, für "Right Now, Wrong Then"

Ohnehin war die Stimmung in der großen Selbsthilfegruppe der einsamen Helden keinesfalls depressiv. Zumal man in diesen Festivaltagen in Locarno auch einen Helden erleben konnte, der geradezu vergnüglich von seinen verqueren Liebesversuchen zu berichten wusste. Die Filme von Hong Sang-soo spielen auf dem weiten Feld der Gefühlswirrungen – der Regisseur gilt schon lange als koreanische Antwort auf Eric Rohmer. Wie bei dem französischen Nouvelle-Vague-Meister sind auch die Filme des Südkoreaners heiter-ironische Liebesreigen.

Lars Kraumes Nachkriegsdrama „Der Staat gegen Fritz Bauer“ mit Burghart Klaußner (l.) und Ronald Zehrfeld erhielt den Publikumspreis.
Lars Kraumes Nachkriegsdrama „Der Staat gegen Fritz Bauer“ mit Burghart Klaußner (l.) und Ronald Zehrfeld erhielt den Publikumspreis.

© dpa

„Right Now, Wrong Then“, Hong Sang-soos mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnetes Werk, zeigt einen Regisseur, der auf einer Reise in einem Tempel eine junge, faszinierende Frau kennenlernt. Man isst und trinkt miteinander, kommt sich näher, trinkt weiter – aber er verschweigt ihr, dass er verheiratet ist. Das Drehbuch gibt ihm eine zweite Chance, der Vorspann startet noch einmal, und nun lernen sich die beiden nicht unter Vortäuschung falscher Tatsachen kennen. „Right Now, Wrong Then“ ist ein präzise beobachtender Film über unausgesprochene Gefühle und über die Bühne, auf der sie zum Vorschein kommen.

"Der Staat gegen Fritz Bauer" mit Burghart Klaußner gewann den Publikumspreis

Der vielleicht einsamste, aber auch heroischste Held des Festivals: Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt jüdischer Herkunft, der in den fünfziger Jahren nach Deutschland zurückkehrt, um gegen die Verdrängung in der noch jungen Demokratie vorzugehen. Bei seinen Versuchen, die Verbrechen der NS-Zeit juristisch aufzuarbeiten, sieht sich Bauer mit alten Nazi-Seilschaften konfrontiert. Je tiefer Lars Kraumes Nachkriegsdrama „Der Staat gegen Fritz Bauer“ in diese heikle Gemengelage vordringt, desto stiller wurde es bei der Weltpremiere auf der Piazza Grande mit ihrer beeindruckenden Freiluftleinwand.

„Der Staat gegen Fritz Bauer“, Gewinner des diesjährigen Publikumspreises, ist eine Kreuzung aus Politthriller, Biopic und Zeitdokument. Klug fokussiert Kraume die Geschichte auf Bauers Suche nach Adolf Eichmann, der sich in Argentinien versteckt hält, auch setzt er auf empörende Fakten und Details. In wenigen Einstellungen spießt er den Einrichtungsmief deutscher Küchen auf, während in Bauers Büro schon die Möbel von Weltoffenheit künden. Burghart Klaußner vergegenwärtigt den einsamen Weg eines Menschen, der seine Wut und manchmal auch seine Resignation hinter dem Qualm unzähliger Zigaretten versteckt. Sein kämpferisches Gesicht, das immer wieder aus den Schwaden auftaucht, es bleibt im Gedächtnis.

Anke Leweke

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