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Tanzstunde

© Ullstein

68er-Generation: Jethro Tull und der Bourée-Orgasmus

Sommerlegenden und gefühlte Heldentaten eines Provinzbewohners: Wie 1968 mit Verspätung nach Fulda kam.

„Da ist Papa“, sagt der Dreijährige, wenn er im Flur die historische Fotografie an der Wand sieht: Rudi Dutschke beim Sit-In, zu seinen Füßen ein applaudierender Genosse mit Mütze. Von der Mütze, die Vaters Kopfbedeckung ähnelt, rührt die kindliche Verwechslung.

Der Sohn irrt, was die Fakten betrifft; damals lebte sein späterer Erzeuger nicht in Berlin, sondern in der schwarzen Provinz. Recht hat er mit dem Übereinanderblenden der Bilder von gestern und heute. So diffus erinnern wir uns: wie das Ich und sein Kollektiv sich einander anverwandelten, vor 40 Jahren – in progressiven Brennpunkten, an der föderalen Peripherie. Die Geschichtsschreiber sitzen in den Metropolen und halten fest, was abgeht. Die Mehrheit sitzt, zum Beispiel in Fulda, am Rand der Welt. Wie Fortschritt dort ankommt, gehört zu den Mysterien der Heilsgeschichte.

Ich war 14, als auf Dutschke geschossen wurde. Danach haben mein Vater und ich jahrelang, zugunsten des Weltfriedens, nur noch vom Wetter geredet. Bei Themen vom Tage wären wir nuklear aneinandergeraten. Außerdem erwog ich in jenem Jahr mit einem Klassenkameraden, Unterschriften gegen den Einmarsch „der Russen“ in die CSSR zu sammeln.Was meine gerührte Mutter zu dem Kommentar veranlasste, das sei kein Kinderspiel – dafür müsse man eines Tages vielleicht den Kopf hinhalten. Auf diese konkreten Ereignisse im April und August beschränkt sich mein politisches 1968; mehr hat das Gedächtnis nicht übriggelassen.

Das buntere Verklärungspotenzial bietet unserer Zwischengeneration die Collage „Goldene Jugendzeit“, der mythologische Komplex „68 ff.“. Pubertätseruption, Aufmischung der Lebensstile, gefühlte Heldentaten. Der Abenteuerbonus dieser vierjährigen Sommerlegende, inszeniert zwischen den Knutschbänken am Schlossparkteich und dem Universtätsplatz der Möchtegern-Hippies, ist begrenzt. Wir bleiben Zaungäste, während sich anderswo irgendwas bewegt. Dabei gehört zum stickigen Zauber eines Barockstädtchens an der Zonengrenze auch die Herstellergarantie: dass alles bleibt, wie es ist. „Verbum Domini Manet In Aeternum“ verkündet vis-à-vis dem fürst-äbtlichen Stadtschloss der Missionar St. Bonifaz und präsentiert den Deutschen eine aufgeschlagene Bibel.

Als Fuldas „Föderation Neue Linke“ (eine Hommage an die südvietnamesische Befreiungsfront FNL) gegründet wird, prangt auf der Agitationspostille die Bonifaz-Statue mit Karl-MarxKopf, „Das Kapital“ in der Hand: „Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit.“ Blasphemie liegt in der Luft! Links-Sein an sich ist in dieser Region schon unsittlich, vom Guerillakrieg gar nicht zu reden. Ehrfürchtig, wie ein pornografisches Schmuddelbild, zeigen uns Insider das Gründungsmanifest der RAF, ein Mitbringsel aus Frankfurt. Ein sauberes Printprodukt, zweifellos. Das pathetische Emblem mit Maschinenpistole, gutes Papier, gestochenes Druckbild. Keine fipsige Kopie!

In dieser Welt ohne Copy-Shops erfordert die Multiplikation einer Botschaft zum Manifest logistische Kraftakte. Selbst die vergleichsweise brave Schülerzeitung „Das Loch“ stellt ihre Publizisten vor technische Mutproben: Texte auf Wachsmatrizen tippen, mit Tipp-Ex flicken, Zeichnungen in Wachs kratzen, beim Hektografieren zerfledderter Matrizen nicht verzweifeln!

Die Begeisterung des Lehrkörpers für „Das Loch“ hält sich in Grenzen. Es gibt in unserem Gymnasium den gemütlichen belgischen Lateinlehrer, ehemals Waffen-SS-Mitglied, der laut wird bei historischen Fragen. Es gibt den netten Sudetendeutschen, bei dem wir im Sportunterricht was Ertüchtigendes mit „Heil“ rufen, und der seine Vertriebenen-Wut auf Ludvik Svoboda, den umjubelten Präsidenten des Prager Frühlings, nicht versteckt. Es gibt als qualifiziertes Feindbild den schneidigen CDU-Geschichtslehrer – aber auch jene Deutschlehrerin, die unser Interesse dafür weckt, dass Max Horkheimer zur Rettung der Erotik gegen die Anti-Baby-Pille argumentiert; die mit ihrer Intellektualität, ihrer Körpergröße, ihrer SPD-Sympathie, ja, und vor allem mit ihrem Geschlecht das männliche Traditions-Kollegium verschreckt. Und es gibt jenen raubeinig-herzhaften Griechischlehrer, der den Verkauf von „Das Loch“ während des Unterrichts stoppt: weil in der Dezembernummer Weihnachten als „Orgasmus des Konsums“ bezeichnet wird.

Orgasmus avanciert zum kulturrevolutionären Kampfbegriff. Das Phänomen selbst ist ja keine 68er-Erfindung, aber gesprochen hat man davon in Fulda bislang kaum. Ich erinnere mich an einen Dialog mit einer Berlinerin, die an einem Zeltlager in dem Rhöndorf teilnahm, in das meine Eltern gezogen waren. Damals pendelte ich als Fahrschüler zwischen dem Dorf und der Barockstadt; da bringen solche Gäste etwas Berliner Luft auf den Berg. Das Mädchen tanzt in der Zelt-Disco zur Urschrei-Nummer „Careful with that Axe, Eugene“ von Pink Floyd. Jetzt bin ich dran, mich musikalisch zu outen. Ich bekenne mich zu „Bourée“ von Jethro Tull, füge hinzu, das sei „wie ein Orgasmus“. Worauf die Berlinerin fragt, was denn das mit Orgasmus zu tun habe. Vielleicht kam damals mein Wunsch auf, nach Berlin zu ziehen.

Der subversivste Orgasmus ist jedoch die Sache mit „Orgas 12“. Ein wenig verschlüsselter Pornoroman, der im Schicki-Micki-Milieu der Bischofsstadt spielt, rund um das Damenoberbekleidungsgeschäft am Uniplatz. In der Klasse wandert das Buch von Bank zu Bank. „Orgas 12“ beflügelt mit hoher Kopulationsdichte, ohne dogmatischen Fraktionszwang, pubertäre Fantasien zur sexuellen Revolution. Es ist nun mal Sommer. Die erstaunliche Deutschlehrerin schleppt uns ins Gastspiel von „Hair“. Lässt uns nach der Show mit Sängern diskutieren, deren Nacktszenen aus dem Publikum fotografiert wurden. Anfangs, erzählen die, seien sie noch ins Parkett gesprungen und hätten Kameras an sich gerissen.

Hippie-Utopie ist witziger als Revolution. Auf dem Uniplatz (die Universität schloss 1805, jetzt dominiert Karstadt die Kulisse) halten Langhaarige Hof. Ein radebrechender Engländer mit wild beklebter Klampfe und Harmonika zelebriert sich als reimendes Opfer der Bürgerwehr: „Die Haare schor man mir im Schlaf / So wie im Sommer sonst beim Schaf.“ Der hochintelligente Sohn einer angesehenen Einzelhandelsfamilie gibt den streunenden Cityfreak in Trance.

Langhaarig, doch nur halb so witzig wie F. J. Degenhardt, erscheint auch der local hero und Barde Rappel (Künstlername). Er adaptiert – welche Ehre – antimilitaristische Verse aus meiner Feder; ergänzt durch Schmähungen der SPD, den JuniorPartner jener Großen Koalition, die für alles Schlechte verantwortlich ist, auch für das Aufleben der NPD.

Parteipolitik schmeckt wie Gemeinschaftskunde. Kulturrevolution ist unterhaltsam, aber leicht zu verwechseln mit anderen Trotzphasen. Wer als Einziger in der Klasse, wegen Anzug-Allergie, die Tanzstunde boykottiert, braucht einen Dickschädel (ahnt aber nicht, dass er das Versäumnis lange bereuen wird). Wer als Schultasche eine US-Munitionskiste benutzt, beklebt mit dem Lederpflege-Slogan „Revolution aus der Tube“, bedient jene Zeichen, derer er sich bedient. Wer im Schlepptau einer schönen Freundin zu Tschaikowskys Violinkonzert den ersten Joint durchzieht, hört beim Kreislaufkollaps von fern noch Fetzen der Kadenz – und wird fortan bürgerliche Drogen vorziehen.

Konfrontation entsteht auch aus Missverständnissen: Der greise Klassenlehrer, ein Feuerzangenbowlen-Typ, geht türenknallend ab, weil er Al Kooper als Freiheitsstatue auf dem Poster „Pop Revolution from the Underground“ politisch deutet. Mein Vater hält Jimi Hendrix über meinem Bett für Che Guevara. Recht haben sie; mit dem Übereinanderblenden.Die Pose ist die Botschaft.

Heute weiß ich nicht mehr, was mich trieb, mit einem Wecker am Hals barfuß das Gymnasium zu betreten, oder was ich damals antwortete auf Vorhaltungen des Direktors. Der Überbau zählt, meinen Eltern legte ich das ideologisch so dar: „Wer mich nach dem Äußeren beurteilt, interessiert mich nicht.“ Ein eher liberales Selbstverwirklichungskonzept; Konsequenzen für die Beziehung Individuum – Kollektiv werden da kaum zu Ende gedacht; noch floriert der Traum, man könne, ohne isoliert zu sein, ganz identisch mit sich selbst leben.

„Selbst“ heißt eine Session- und Performance-Serie, die ein Team unserer Klasse organisiert, als Forderungen nach einem Jugendzentrum von „da oben“ abgeschmettert werden. Auf den (per Wachsmatrize vervielfältigten) Einladungen prangt unter der Überschrift „Sie kommen alle“ nur ein Bild-Lexikon surrealistischer Zoologie: der Babaluma, der Dörres, der Tieflandkogel et cetera. Eintritt: 1,50 DM.

Wenn Fahrschüler vom Fuldaer Bahnhof zur Schule zuckeln, kleben Slogans an den Laternenmasten: „Nixon glauben wir kein Wort. Völkermord bleibt Völkermord.“ Einmal findet sogar ein Schulstreik statt, samt Demo; nicht wegen Vietnam. Auf dem Land hat Politik noch weniger verloren. Wenn der Fahrschüler seinen Abend im klaustrophobischen Dorf an der hessisch-bayerischen Grenze verbringt, bleibt er dem Zeitgeist der Befreiung nur durch ein Mirakel verbunden: Das Beste an diesem Ort in 700 Meter Höhe ist der Fernsehempfang. Bewusstseinserweiterung durch WDR III, via Zimmerantenne. Klassische Beckett-Inszenierungen! Sogenannte anarchische Komödien – die Marx Brothers (von denen ich mich verstanden fühle). Der politische Mehrwert solcher Infiltration ließe sich vielleicht als Wehrkraftzersetzung formulieren.

Zum Bund gehen wenige aus unserer Klasse. Die meisten werden Ingenieur, Anwalt, Zahnarzt oder so. Der Barde landet im Schuldienst. Ein Selbstmord aus Examenspanik. Einer wird Lastwagenfahrer. Einer Fernsehredakteur. Die schöne Kifferin macht später in Berlin akademisch Karriere. Die erstaunliche Deutschlehrerin heiratet einen Priester, wird fromm, adoptiert Kinder aus der Dritten Welt. Der City-Freak aus guter Familie stirbt jung.

Ich selbst ahne natürlich, dass meine Söhne, drei und fünf Jahre alt, eines Tages nicht mehr wie heute Songs der ersten Santana-LP singen und trommeln werden, die für ihren Vater 1969 das Aufbruchserlebnis waren. Weniger kann ich mir vorstellen, Piercing als ebenso cooles Autonomiesymbol zu akzeptieren wie den Wecker um meinen Hals. Die Mütze übrigens, aus einem Pekinger Mützenladen, passt nicht mehr gut. Der Kopf ist heute wohl dicker.

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