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Lagune der Sehnsucht. Dies ist keine Szene aus einem Katastrophenfilm von Roland Emmerich. Die Riesendampfer sind Alltag in Venedig. Von hier starten die Kreuzfahrtschiffe zu ihren Reisen über das Mittelmeer – nach Kroatien, nach Griechenland, zu den Inseln. Der Süden wird pauschal erobert. Foto: Reuters

© REUTERS

Ab in den Süden: Sexy, aber arm

Wenn der Südwind weht: Europas Mittelmeerregion ist noch widersprüchlicher, als es die Klischees der Krise ahnen lassen.

Neuerdings wollen wir alle den Süden retten. Naturgemäß zuerst im Feuilleton, schließlich haben die Griechen und Römer für uns Nordländer ja die Kultur erfunden. Und vermutlich auch den Sonnenschirm, der uns freundlicher anmutet als jeder Eurorettungsschirm – oder schlicht nur der Regenschirm (der im Mutterland der Schauer-Welt immerhin fast italienisch klingend „umbrella“ heißt).

Vor ein paar Jahren schien das Thema „Süden“ im traditionellen Sinne schon so gut wie erledigt. Nachdem das Niederrauschen des Eisernen Vorhangs vorerst den Ost-West-Konflikt behoben hatte, passte auch der klassische Nord-Süd-Konflikt nicht mehr so recht in den geöffneten Horizont. Südliche und gar tropische Länder wie Brasilien oder Indien sind werdende Großmächte, mit höheren Wirtschaftswachstumsraten als die reichen Nordstaaten. Indem die Globalisierung alle Sinne (und Sinnlosigkeiten) erfasst, hat sich der in Europa einst auf die Mittelmeerregionen beschränkte Begriff des Südens vielfach erweitert. Längst ist für die Generationen des digitalen Umbildungsbürgertums und der globalen Easyjetära nicht mehr die „Grand Tour“ durch Italien bis nach Griechenland der selbstverständliche Südreiseklassiker. Der Süden (oder der Sehnsuchtspol) liegt für sie auch in Fernost oder Fernwest, in Bahia oder auf Bali, in Mexiko oder Neuseeland.

Natürlich gibt es als touristischen Süden noch Mallorca. Genau wie Kenia oder die Malediven. Auch die Kanaren, die zugleich ziemlich weit westlich sind. Und wie südlich selbst der Osten ist, erfahren gerade Fußballfans in der Ukraine, bei subtropischen 30 Grad und mehr. Ohnehin geraten die mit traditionellen Südenssehnsüchten verbundenen Wärmeerwartungen zunehmend durcheinander, mit und ohne Klimawandel. Jedenfalls wird in Brandenburg und Südskandinavien wieder Wein angebaut, auch in England, wo Winzer in Kent sogar einen Sekt im Champagnerverfahren produzieren, dessen Prickeln und Preise schon dem französischen Original nahekommen.

Im April/ Mai 2012 war es in Berlin und Moskau meist wärmer und sonniger als in Rom, und außer im wirklichen Sommer kann man in den zentralheizungsfreien Mittelmeerländern mit ihren üblichen Steinfußböden und dünnen Fenstern schnell sein feuchtzugig rheumaförderndes Wunder erleben.

Victor Klemperer, der erst später durch seine Tagebücher aus der Nazizeit berühmt wurde, hatte 1914/15 als junger Lektor an der Universität in Neapel gelehrt und bereits damals in seinem Diarium notiert: „Das richtige Frieren lernt man nur im Süden.“ Vieles ist also relativ, sogar der Süden, der für uns trotz aller Globalisierung gefühlt noch immer am Brenner oder spätestens nach Bozen beginnt, während er für die Italiener als Mezzogiorno (und Armutsbegriff) erst hinter Rom anfängt. Für einen echten Römer allerdings liegt der Süden südlich von Neapel und Apulien überhaupt nicht mehr in Italien. Da heißt es: Sizilien ist eigentlich Afrika. Für die regionalistisch-rassistische Lega Nord, die das reiche Oberitalien gerne vom poveren Süden abspalten möchte, gilt sogar das Nordische als positive Verheißung.

Umgekehrt ist der Norden für die Südländer auch eine Bedrohung, seit die Barbaren über die Alpen kamen. Jetzt freilich mischt sich das Bedrohliche auch mit der aus Not geborenen Verheißung. Das hat mit dem allerneuesten, durch die Finanzkrise und die Staatsverschuldung der Mittelmeerländer bedingten binneneuropäischen Nord-Süd-Konflikt zu tun. Vor allem gut ausgebildete junge Menschen zieht es nun in den Norden, weil von Portugal bis Griechenland die Jugendarbeitslosigkeit 25 bis 50 Prozent beträgt.

Andererseits verteilt sich die südeuropäische Armut keineswegs gleichmäßig über die betroffenen Staaten. Neu bedroht ist vor allem die Mittelschicht, wobei in Griechenland als härtestem Fall tatsächlich auch diese Klasse zerfällt: in Menschen mit beträchtlichen, längst außer Landes gebrachten Euro-Ersparnissen, in Familien mit etwas Landbesitz und eigener, halbwegs autonomer Agrarwirtschaft – und diejenigen, die von gekürzten Gehältern oder Renten ohne sonstige Subsidien nurmehr schwer überleben können. Doch selbst da verläuft das Nord-Süd-Gefälle in der EU nicht immer ganz eindeutig. Der materielle Lebensstandart beispielsweise der Slowaken, die Hellas heute mit unterstützen müssen, liegt im Durchschnitt noch unter dem der neuarmen Griechen.

Von den vielen Reichen und Superreichen der EU-Südstaaten, die bisher weder durch erhöhte Steuern noch beispielgebende freiwillige Leistungen etwas zur Rettung ihrer Heimatländer beitragen, sei hier nicht breiter die Rede. Doch gibt es vor allem in Spanien und Italien einen überaus wohlhabenden Mittelstand, der in Verhältnissen lebt, gegen die sich Wohnstil und Lebensart der besserverdienenden Bundesbürger oft eher poplig ausnehmen. Verwunderlich für die mehr puritanisch-protestantischen Nordländer mag so erscheinen, dass ein spanischer Bauunternehmer nach der geplatzten Immobilienblase selbst von den Ärmsten der Hauptstadt weiterhin dafür gepriesen wird, dass er zuletzt mehr als eine halbe Milliarde (!) Euro für die Spieler seines Hausclubs Real Madrid ausgegeben hat.

Was uns auch nicht so immer bewusst ist: Das durchschnittliche Barvermögen der italienischen Bevölkerung liegt pro Kopf mit fast 61 000 Euro noch (knapp) über dem liquiden Durchschnitts-Besitz aller Deutschen. Damit sind „die“ Italiener tatsächlich reicher als wir alten und inzwischen wieder neuen Wirtschaftswunderlinge. Wohlgemerkt, das betrifft nur das persönliche Vermögen an Geld, Aktien oder anderen Wertpapieren – was Immobilienbesitz oder beispielsweise private Kunstschätze angeht, kann Deutschland nach seinen Weltkriegsschäden und Teilungsfolgen mit dem insoweit unvergleichlich reichen Italien ohnedies nicht mithalten.

Nur beim Funktionieren von Betrieben und Verwaltungen, beim öffentlichen Verkehr, bei Bildungseinrichtungen, der Gesundheitsfürsorge und den sozialen Sicherungssystemen, da wollen wir Deutsche mit keinem Südland, auch gewiss mit Italien nicht tauschen. Müssen wir auch nicht. Nichtmal bei einer erhöhten Haftung für die ganze europäische Schuldenmisere, an der die Deutschen unschuldiger, aber nicht unschuldig sind.

Der Süden mag so manchen Klischees wechselweise entsprechen und widersprechen und auch nicht mehr sein, was er mal war. Er mag global verflüchtigt erscheinen oder relativ, zumal zur Winterzeit oder auf der südlichen Welthalbkugel, wo fast alles sich ohnehin umkehrt. Überhaupt ist es mit den Himmelsrichtungen so eine Sache. Im Westen zum Beispiel, hinter den Säulen des Herkules, wie die antiken Griechen die Felsen der Meerenge von Gibraltar nannten, begann einst im Schatten der untergegangenen Sonne das Totenreich. Platon jedoch glaubte dort auch das sagenhaft paradiesische Atlantis im Westweltmeer versunken. Und später, als die Seefahrer immer kühner immer weiter segelten, wurde der Westen das Eldorado: die Verheißung des überseeischen Goldes. Fast wie für den europäischen Osten bis 1989.

Der Norden galt bis vor kurzem als weniger attraktiv. Als Nebelland. Kaum fangen die Ferien an, drängt es Millionen Nordländer in den Süden, und die Liebhaber der Ost- und Nordsee, der schottischen Moore oder der polnischen Masuren bleiben noch eine (wachsende) Minderheit. Richtig in die erhoffte Kühle und gar den Regen zieht es, nebst dem Shopping (und dem heimlichen Alkohol), eigentlich nur die reichen Saudis und andere arabische Ölwüstenbewohner, die im Sommer nach Münchens Maximilianstraße, nach dem voralpinen Tegernsee oder auch mal nach Kitzbühel trachten.

Aber zurück nach Europa: hic Rhodos, hic salta! Im Zwiespalt zwischen Weltbürger und altem Europäer hängen wir im Grunde doch noch immer am mittelmeerischen Südensbegriff. Trotz Eurokrise schlägt hier das europäische Herz, und das Mittelmeer ist selbst für die Mehrzahl der lateinunkundigen Nordostbürger weiterhin das mare nostrum. Davon zeugen nicht zuletzt die Routen und Quoten der boomenden Kreuzfahrtbranche, daran ändert auch die mit der Schräglage der „Costa Concordia“ zur spektakulären Realität gewordene, der Philosophie und Poesie schon seit 2000 Jahren geläufige Metapher vom „Schiffbruch mit Zuschauer“ nichts.

„Ach lieber Südwind, blas noch mehr“ heißt es mehr sehnsüchtig als klimatologisch in Richard Wagners „Fliegendem Holländer“. Und man muss zum kulturellen Background nun nicht die ganze wunderbare Litanei der arkadisch beglückten oder auch tödlich schiffbrüchigen Südreisenden aufzählen, von Dürer bis Goethe und Nietzsche oder von Shelley bis Lord Byron, der sein Herz in Griechenland begraben ließ. Große sogar, die nie in Italien oder Griechenland waren (wie vermutlich Shakespeare und sicherlich Hölderlin, Kleist und Büchner), haben oft herrlich den Süden besungen. Georg Büchners Komödie „Leonce und Lena“ gibt die vielleicht schönste Italien-Utopie, wenn Leonce zu schwärmen beginnt: „Fühlst du nicht das Wehen aus Süden?“ Ihm wogt schon der „tiefblaue, glühende Äther“ im Busen, und der aller deutschen Enge überdrüssige Prinz möchte nicht mehr Prinz sein, sondern: „Ein Lazzaroni!“

Das ist grammatikalisch nicht ganz korrekt, weil schon Plural. Und ein lazzarone ist neapolitanisch eigentlich ein gaunerischer Nichtsnutz. Aber gerade Goethe hatte auf seiner Italienischen Reise vor bald 250 Jahren in Neapel erkannt, dass die vermeintlichen Lazzaroni nur einen anderen Existenzbegriff besitzen und im scheinbaren Chaos des südlichen Straßenlebens mit allem Handwerk, Handel und flirrendem Wandel auch Wirtschaft und Kleinindustrie fleißig am Leben erhalten.

Nicht zuletzt auf dieses Detail macht uns der Bremer Literaturwissenschaftler Dieter Richter in seinem kleinen großartigen Büchlein „Goethe in Neapel“ aufmerksam, das kürzlich im Berliner Wagenbach Verlag erschienen ist, ebenso wie Richters schönes Buch „Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung“. Beides ist für diesen Sommer eine ebenso geistreiche wie unterhaltsame Urlaubslektüre, sogar im Norden, Osten und Westen.

Der Süden aber ist kulturell, erotisch, kulinarisch und herzlich noch immer manche Sünde wert. Nicht nur den Sonnenbrand. Der Dichter, Zeichner und Satiriker Robert Gernhardt hatte einst komödiantisch seine „Toskana-Therapie“ empfohlen, und auch daran wäre doch zu erinnern: Die oft verspottete Toskanafraktion war – trotz allem selbstgefällig Parvenühaften mancher neuer Villenbesitzer oder Rotweinnasen – die wohl humanste und kultivierteste Fraktion, die unsere bundesdeutsche Gesellschaft bislang erfunden hat.

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