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Kultur: Abschwellender Bocksgesang

Ein triumphales Desaster: Edward Albee schreibt ein Sodomie-Drama – und Andrea Breth inszeniert „Die Ziege“ in Wien als Jammer-Arie

Manchmal ist es eine Kunst, die Pointe eines Stücks gleich am Anfang zu verraten. Auch raffinierte Krimis schüren die Spannung, indem sie mitunter den Täter und die Tat als erstes bezeichnen – und so ihre eigene Fallhöhe setzen. Ähnlich macht es jetzt Edward Albee, neben Arthur Miller noch immer Amerikas berühmtester Dramatiker. 40 Jahre nach seinem Welterfolg „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ ist er plötzlich wieder auferstanden und lässt Martin, den Protagonisten seines neuesten Stücks, schon zum Auftakt etwas gestehen.

Martin, ein amerikanischer Architekt in New York oder Chicago: Gerade wurde er 50, gerade hat er den zuvor an Kollegen wie Renzo Piano, Rem Koolhaas und Richard Meier vergebenen Pritzker-Preis gewonnen (den „Nobelpreis der Architektur“); nun soll er im Mittwesten der USA für 200 Milliarden Dollar eine neue „Weltstadt“ bauen, und seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet ist er auch. Da sagt er seiner Frau Stevie (der „Liebe meines Lebens“), dass er sich zudem in Sylvia verliebt habe: „hoffnungslos“, obwohl er sich „dagegen gewehrt“ habe. „Wer ist Sylvia?“, fragt seine Frau, und er: „Sie ist eine Ziege.“

Stevie hält das naturgemäß für einen Witz; während zu Hause ein Fernsehteam für ein Interview mit Martin anrückt, geht sie einkaufen, zum Friseur, und vielleicht will sie „noch kurz bei der Tierhandlung vorbeischauen“. Auch das ein Scherz. Aber tatsächlich geht es hier: um Sodomie. Der Weltstar der zeitgenössischen Architektur war letzten Sommer auf der Suche nach einem Landhaus, da ist ihm eines zauberischen Nachmittags zwischen den prallen Früchten und reifen Garben der Natur das Widernatürliche widerfahren. Eine alleinstehende Ziege schaute ihn an im Feld, und um den großen Mann war’s geschehen.

Sie halten das für Kitsch, für abstrus, für holden oder hohlen Wahnsinn? Dieser Martin jedoch meint es ernst, und Edward Albee nennt sein jüngstes Ehe(bruch)drama „Die Ziege oder Wer ist Sylvia?“ – Untertitel in Klammern: „Notes toward a definition of tragedy“. Also „Anmerkungen zu einer Bestimmung des Tragischen“. Damit wird gleichermaßen hoch und tief gegriffen. Tief ins menschenmöglich Abgründige, tief in das Genre der boulevardesken Seitensprungkomödie, die hier mit einem der letzten zivilisatorischen Tabus verkuppelt ist. So aber geht’s auch wieder hoch hinauf: ins Mystische und Mythische, da wären der ziegenbockfüßige Pan und seine doppelt geschwänzten Satyren, der als Stier oder Schwan sich einmischende Liebhaber Zeus, und irgendwie verlässt die Sodomie sie nie, die alten Götter und den alten Affen Adam, diese ganze tierisch geile Göttermenschenbande.

Einmal, als er sich seiner Frau zu erklären sucht, da spricht der Mann Martin angesichts des ihm selber Unerklärlichen von einer „Epiphanie“ – die Ziege Sylvia war ihm eine Erscheinung, doch weil wir nicht im Mythos (oder bei Botho Strauß) sind, steckt in der Ziege keine Göttin, wird aus der Erscheinung keine Offenbarung. Sie bleibt schlicht ein Triebrätsel. Was sonst als Sex, Crime und Kuriosa in der Boulevardpresse oder unter den vermischten Nachrichten kurz und trübe vorscheint, wird hier in drei Szenen einer Ehe ausgeleuchtet, bis eines langen Tages Reise in die Nacht und Zimmerschlacht im häuslichen und seelischen Chaos endet. Und im Mord – vielleicht auch im befreienden Opfer: Die Frau schleppt am Ende die Ziege von draus vom Felde her ins großstädtische Wohnzimmer, mit durchschnittener Kehle. Als Sündenböckin.

Wie einst Martha und George in „Virginia Woolf“ nach Orgie und Totschlag ihren (nur eingebildeten) Sohn zu Grabe trugen, könnte auch die Tierleiche das Ende eines Liebeswahns und die Rückkehr ins verwüstete, aber pionierhaft neu zu beginnende Leben signalisieren. Tod, sexuelle Abirrung oder Verdrängung – einst reichte noch die Homosexualität – waren von Anfang an Edward Albees Themen, und sein erstes größeres Stück hieß „Der amerikanische Traum“ (1961). Immer ein Alp, ein wüster Witz, ein helldunkles Rätsel und eine dunkelhelle Verheißung. So schließt sich ein erstaunlicher Kreis.

Und so ist diese „Ziege“ fast eine Sensation. Denn in den sechziger Jahren war Albee sehr jung schon eine Art Supernova. Mit „Virginia Woolf“ (1962), „Tiny Alice“ (1964) und „Empfindliches Gleichgewicht“ (1966) hatte er das Welttheater überfallen und überstrahlt, hatte das bei Millers und Tennessee Williams’ psychologisierenden Melodramen noch in der Ibsen-O’Neill-Nachfolge befangene US-Drama explodieren lassen. Albee war Pulitzer-Preisträger, wurde auf allen Kontinenten gespielt und mit Richard Burton und Elizabeth Taylor als „Woolf“-Paar verfilmt: Reichtum, Ruhm, Talent, alles im schnellen Überfluss. Und aus. Und verloschen.

Drei Jahrzehnte lang wirkte dieses frühe Genie völlig ausgebrannt, seine neuen Stücke, bisweilen des Namens wegen noch gewagt, wurden schnell abgesetzt, schließlich inszenierte er selbst noch seine Uraufführungen am winzigen Wiener (!) English Theatre, trat bei den Premieren dieser künstlerischen Peinlichkeiten als Regisseur im Smoking auf, vor zweitrangigen Diplomaten und sonderbaren Sponsoren: als drittklassiger Boulevardier – nurmehr ein Zauberer ohne Stab und selbst im persönlichen Gespräch ohne Bewusstsein, was mit ihm geschah, nur im Wahn, hier seine Weltkarriere fortzusetzen, noch immer ein Großkünstler zu sein.

Und jetzt, mit 75 Jahren, dieses Comeback. „The goat“ war letztes Jahr am sonst schauspielarmen Broadway ein Ereignis, wurde zum amerikanischen Stück des Jahres gewählt, und nun wird „Die Ziege“ im deutschsprachigen Raum in vielen Großstädten gespielt werden, als nächstes am Berliner Renaissance Theater.

In Wien aber ist Andrea Breths Erstaufführung im Akademietheater der Burg erst mal ein bedauerliches Missverständnis. Das beginnt schon mit dem Bühnenbild und setzt sich fort im Kostüm. Susanne Raschig hat als Gesamtausstatterin offenbar eine ungemein kunstgewerbliche Vorstellung, wie ein internationaler Stararchitekt zu Hause wohnen mag. Alles Stahl-Blech und Plastik, graublaues billiges Protzdesign mit nichts als Downlights in der Wohnzimmerhalle, mit Blumen nicht in Kieselerde, sondern in Glaskügelchen, mit einer Skulptur aus dem abstrakten Heimatmuseum und griechischen Amphoren oder grüngipsenen Pan-Figürchen – und die ganze mit Blut, Müll und Tobsucht geführte Heimschlacht auf einem Teppichboden, als hausten die Pritzker-Preisträger gerne im Modern-Spieß-Museum.

Auf dem Kunststoff darf Corinna Kirchhoff dann als Gattin Stevie in Nylons rumlaufen, nachdem sie ihre schwarzen Pumps militärisch exakt nebeneinander in der Zimmermitte abgestellt hat. Oder wenn sie nicht gerade in diesen Pumps samt schwarzer Seidenhose zur weißen Bluse stolziert, als sei die blonde Hausfrau ein Torero und das Ziegen-Seelenduell ein Stierkampf an der Upper Eastside.

Noch schlimmer haben Regie und Ausstattung der Hauptfigur zugesetzt: Peter Simonischek, dieser große grauköpfige Spieler steckt als sanfter Liebeswahnsinniger zu Hause nicht in irgendeiner vorstellbaren bequem eleganten oder gar künstlerischen Architektenhaut: sondern im grauen Anzug mit Weste, steif und schwer wie ein Staatssekretär oder angestellter Bankier. Und nach der Pause, wenn zwar der Schlips in der Hitze der Schlacht entfallen ist, muss er – noch immer im eigenen Wohnzimmer! – bis zum Schluss im langen Stadtmantel spielen.

Das führt dazu, dass Simonischek, der Sympathische und in Nuancen der Zerstreutheit oder großbübischen Unschuld selbst weit unter Form noch Beste des Abends, in dem haltlosen Raum nicht viel mehr Posen zusammenbringt, als den schweren Körper und die arme Seele an wechselnde Wände zu lehnen, die eine oder andere Hand in die Hosentasche zu stecken oder sich erschöpft auf ungenießbaren Stadttheaterdesignerplastikstühlen abzusetzen. Seine Verzauberung, seine Verhexung, sein bürgerlicher Abgrund – ein gar zu flaches Phlegma. Das man als Abwehrreflex andererseits auch wieder versteht.

Denn Corinna Kirchhoff dirigiert mit ihren Händen unentwegt die Luft und das Haar, lässt ihre Stimme vom temperiert migränischen Maulen bis zum hysterischen Jodeln manierieren, während Johann Adam Oest als Martins Intimfreund, Fernsehinterviewer und denunzierender Beichtbruder die Knallcharge Augenbrauenzuckers, Schnutenziehers und fuchtelnden Nachmittagsalkoholikers abzieht. Daneben versucht sich Philipp Hauß als 17-jähriger Sohn und Schwuler (Albees Obsession) zu behaupten: ein Duell zwischen dem väterlichem „Ziegenficker“ und einem verzweifelt um den Elternfrieden kämpfenden „Arschficker“.

Den Umschlag vom „Noel Coward“-Ton, den sich Albee wünscht, also vom virtuosen boulevardesken Witz – wenn Worte wie „verbockt“ oder „etwas ist im Busch“ einen absurd-realistischen Doppelsinn erhalten – hin zum irren, satyrhaften Ernst („toward a definition of tragedy“) erreicht Andrea Breths mit bleischweren Kunstpausen wattierte Aufführung nie. Es fehlt ihr das empfindliche Gleichgewicht zwischen Banalität und Bedeutung und jeder Sinn für die Realität. Schon das Programmheft zitiert zwar viel von Homer, Nietzsche, Platon, Botho Strauß: mit der immergleichen Botschaft, der große Pan ist tot. Doch kein einziges Wort über den Autor Albee. Und kein Wort über die Assoziationen der Wirklichkeit, über Pädophilie und Kannibalismus, über den angeklagten Popstar, den Bürger von nebenan und die Abgründe des Internet.

Eine Ahnung von Panik und Alltag, Mythos und Horror gibt allein ein Gedicht des Münchner Dramatikers Albert Ostermaier, der das Stück nach einer von Andrea Breth abgelehnten Übersetzung von Alissa und Martin Walser neu übertragen hat. Und eine Überraschung gab es auch, für Sekunden. Da spielt Simonischek als CD, was nicht im Text steht – ein Lied von Franz Schubert: „Was ist Sylvia, saget an?“ Die Frage hätte sogar Edward Albee verblüfft.

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