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Kultur: Absturz der New-Economisten

Berstendes Talent: zur Uraufführung von Jörg Widmanns „Das Gesicht im Spiegel“ in München

Blöde Frage: Was ist eine zeitgenössische Oper? Eine, die da ist, sobald und solange wir selber da sind. Eine, die uns etwas angeht, die tröstet, ärgert, verstört, fröhlich macht. Insofern sind - und das ist ein alter Hut - Mozart, Verdi und Wagner qua definitionem unsere Zeitgenossen. Ewig und unerschöpflich, jedenfalls solange die Oper so existiert, wie sie existiert, als Durchlauferhitzer unseres geliebten Kernrepertoires.

Nun hat Münchens Staatsopernintendant Peter Jonas den jungen Münchner Komponisten Jörg Widmann ganz dezidiert damit beauftragt, eine „aktuelle“ Oper, ein Musiktheater über „das Heute“ zu schreiben - und also um Himmelsgotteswillen nicht die x-te Vertonung von Weltliteratur, bloß keine Anleihen bei den alten Griechen, bei Shakespeare, Schillern und Goethe. Ein Anfall von Hellsichtigkeit? Oder vielleicht doch eher der Zynismus eines Theatermanns, dem man in den letzten Jahren für nichts anderes dicke Lorbeerkränze geflochten hat als, sozusagen, für die Interpretation der Interpretation der Interpretation und die galoppierende Verpoppung der Strecke Monteverdi-Händel-Mozart?

Die jüngsten Auftragswerke der Bayerischen Staatsoper jedenfalls (von Jürgen von Bose über Henze bis Reimann) wussten sich, was das „Heute“ angeht, nur mäßig mit Ruhm zu bekleckern. Jörg Widmann (Jahrgang 1973) und sein Librettist (und Hausautor der Berliner Schaubühne) Roland Schimmelpfennig (geboren 1967) indes haben diesen Fehdehandschuh gerne aufgenommen. Viel besser noch: Sie haben ihn als solchen gar nicht begriffen, sondern einfach getan, was sie tun mussten. Ganz für sich, durchaus egomanisch. Und um mindestens so ehrlich und furchtlos zu sein, wie die beiden es gewesen sind: Man verspürte im Vorfeld doch arge Bedenken. Generation Golf II goes Opera? Illies & Friends?

Der Plot des Stücks mit dem seltsam an E. T. A. Hoffmann gemahnenden (Arbeits-)Titel „Das Gesicht im Spiegel“ immerhin liest sich ziemlich gespreizt. Bruno und Patrizia, ein Unternehmerpärchen der New-EconomyGeneration, erschaffen mit Hilfe ihres Bio-Ingenieurs Milton einen künstlichen Menschen, einen Klon, präsentieren diesen der Weltwirtschaft - und hoffen auf fette Aktiengewinne. Der Klon namens Justine aber, eine perfekte Kopie Patrizias, verliebt sich unseligerweise sehr rasch in Bruno (und er sich in sie: „Sie ist so/wie Patrizia einmal war“), was im zweiten Teil zu einer Reihe opernarchetypischer Verwicklungen führt.

Am Ende kommt Bruno bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Patrizia aber enthüllt Justine ihre wahre Identität, indem sie ihr einen Spiegel vorhält, woraufhin diese sich die Pulsadern aufschneidet: „Wenn ich kein Mensch bin / dann will / dann will ich sterben.“

Zwei Fragen, hauptsächlich, stellen sich im Blick auf diese dramatische Versuchsanordnung. Kann es von vitalem, ja existenziellem Interesse sein, ausgerechnet jenen Nadelstreifen-Typen, die einem tagtäglich in Flugzeugen und Speisewagen den Nerv rauben, auf der Opernbühne (und also singend!) wieder zu begegnen? Oder besteht unsere Gesellschaft tatsächlich aus nichts anderem mehr als aus solch mumifizierten Funktionsträgern? Das wäre wohl sehr naiv gedacht. Und zweitens: Wer oder was ist hier eigentlich echt? Die beiden Aktienjunkies in ihrer grotesken, besinnungslosen Raffgier? Der Ingenieur, der Dürrenmatts „Physikern“ ebenso entsprungen sein könnte wie Büchners „Woyzeck“ und anderen Kunstträumen von der perfekten Manipulation? Oder nicht doch eher der Klon mit seinem emphatischen Menschenbild und seinen jungfräulich-reinen, von keinerlei Zweifeln, keinerlei „Moral“ infizierten Gefühlen?

So wenig das Stück hier theoretisieren und eine handfeste Ethik-Debatte entfachen will, so sehr beschleicht einen im Verlauf dieser pausenlosen 16 Szenen der Verdacht, dass sowohl das Börsenbashing des Beginns als auch die Sache mit Justine als Klon lediglich Ausdruck eines zeitgeistigen Ambientes ist, eines anonymen, garantiert ehrgeizlosen Vertrautseins mit dem Hier und Jetzt. Gesellschaftskritik als Etikett, als Oberflächenschoner, der spätestens dann Fäden zieht, sobald es um so altmodische, ewig zeitgenössische Dinge wie Liebe, Tod, Treue, Rache und Eifersucht geht? All diese Antworten bleibt Roland Schimmelpfennig - was die Strapazierfähigkeit seines Textes mit ausmacht! - gezielt schuldig und reicht sie höflich an die Musik weiter.

Schade, dass Regisseur Falk Richter solches Vertrauen nicht aufbrachte. Er und seine Bühnenbildnerin Katrin Hoffmann setzen ganz auf die Macht und die Herrlichkeit des Videos (Design: Martin Rottenkolber, Meika Dresenkamp). In dem Moment freilich, in dem die Springflut der Bilder - Großstadtlichter, Stammzellen, Aktienkurse, Sabine Christiansen - nicht die kleinste raue Körnung aufweist, an der sich das Auge brechen könnte, in diesem Moment bleibt das Ganze, was es ist: zweidimensional und extrem sprachlos, ja austauschbar. So fahren im betonkahlen Bühnenhaus des Münchner Cuvilliés-Theaters zweieinhalb Stunden lang zwei kleinere Projektionswände um eine große herum, und gefrieren die Menschen davor zu Chargen: Salome Kammer als mächtig outrierende, stimmakrobatische Patrizia, Dale Duesing als ergreifend verliebter, belcantistischer Bruno, Richard Salter als stoisch polternder Milton und Julia Rempe als somnambule, ganz in ihren synthetischen Vocalisen befangene Justine. Und die tapferen Buben des Tölzer Knabenchors nicht zu vergessen, die das Geschehen wie eine Handvoll geklonter Trolle kommentieren. Erst ganz am Schluss, wenn die Herzen der Menschen brechen, findet auch Richter zu einer empfindsameren Theatersprache. Dann sinken die Wände in sich zusammen, erlischt das Licht und regnet es aus dem Schnürboden verkohlte Aktien auf die sterbende Justine.

Dass Jörg Widmann den Sängern ihre Partien buchstäblich wie Honig in die Kehlen gegossen hat, merkt man. Was man auch und vor allem und mit einer Mischung aus größter Erleichterung und Bewunderung feststellt: Widmann ist der Hype um seine Person - die vielen Preise der letzten Jahre, die Klarinetten-Professur in Freiburg, das Debüt in Donaueschingen - keineswegs zu Kopf gestiegen. Im Gegenteil: Seine „Gesicht im Spiegel“-Partitur ist das Dokument eines berstenden Talents und einer heillosen Besessenheit vom Musiktheater. Fast möchte man Widmann hier lieber nicht zu hoch loben, um sich etwas von seiner Kunst noch für die Zukunft zu bewahren, aber: Die Klugkeit und Ökonomie seiner Mittel, seine untrügliche dramatische Intuition, die Tiefe seiner Klangvorstellung, die Schönheit und der weitgespannte, kühne Atem seines Tons, außerdem Witz, Frechheit und Humor und dass er sich so gut wie nie in schale, normalavantgardistische Posen flüchtet - dies alles ist doch sehr bestrickend.

Und so glitzrig, so komplex die Partitur sich auch präsentiert, Widmann verfolgt hier ein klares, im guten Sinne fast einfältiges Konzept: Die Geschichte vom Wachsen der Gefühle und vom Implodieren der Systeme kleidet er in ein einziges riesiges Decrescendo. Das heißt: Die Tempi werden immer langsamer, der musikalische Satz zehrt sich radikal aus und die Bewegungen ergießen sich in immer stillere Flächen. Vom Stampfen autistisch-rasselnder Rhythmen zu Beginn über allerlei lustige Laszivitäten (Geld macht erotisch!) bis hin zum verzweifelten Kreischen höchster Flageoletts spannt sich hier der Bogen, vom zärtlich getupften Liebesweben über einen virtuos (und gar nicht peinlich) auskomponierten Orgasmus bis hin zur seelischen Entleibung der beiden Ehepartner mittels Luftgeräuschen und gezielten Schlägen in die Magengrube.

Das Allerschönste, vielleicht: die Schlafszene zwischen Patrizia und Justine, in der sich die beiden Sängerinnen die Töne wie auf Silberlöffelchen reichen, und man buchstäblich nicht weiß, wer hier was singt; oder auch das pathetisch brodelnde zweite Vokalquartett, ein klaffender Schmerz. Am Ende: das Reiben zweier Töne im Raum. Pianissimo. Sehr hoch. Als wär‘s der eigene Körper.

Christine Lemke-Matwey

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