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Kultur: Ach Gott, wieder dieser Napoleon

THEATER

Bumbadabum-dibumbum. Irgendwo im verwinkelten Tacheles -Gebäude spielt sich ein Schlagzeuger warm. Abgehackte Rhythmen sickern dumpf durch die Wände des Theatersaals, aber hier drinnen scheint das niemanden zu kümmern – am wenigsten die fünfköpfige venezianische Aristokratengesellschaft auf der Bühne, die längst jedes Interesse an einer Realität jenseits ihrer dekadenten Obsessionen verloren hat. Da mag sich die Außenwelt noch so lautstark bemerkbar machen. „Der Witwer von Venedig“ basiert auf einer Romanvorlage der Französin Gabrielle Wittkop, die sich im vergangenen Dezember mit 82 Jahren das Leben nahm. Wie in Wittkops Buch wird auch in der Inszenierung des Theaters zum Westlichen Stadthirschen die Dekadenz des ausgehenden 18. Jahrhunderts zelebriert (weitere Vorstellungen: 6.–8., 18.–21., 24.–26., 28. Juni, 20.30 Uhr).

Diese an Casanova und de Sade geschulte Überfeinerung der Sinne lebt sich mit Vorliebe im Reich des Morbiden aus (Inszenierung: Agnese Grieco). Da provoziert die Zeitungsnachricht vom Eroberungsfeldzug Napoleons nur ein müdes „Ach Gott“, während die öffentliche Vierteilung eines Mörders mit der gleichen analytischen Schärfe diskutiert wird wie das letzte Operettenspektakel. Giftmord und Sezierungstechnik, Verwesungsprozesse und Körperausscheidungen sind hier die letzten fesselnden Themen einer Gesellschaft, die, ihrer Literatur müde geworden, sich mit der akribischen Lektüre des eigenen Körpers am Leben erhält – und dabei mehr und mehr dem Tod verfällt. „Aber warum mit solcher Besessenheit über diese Dinge reden?“, fragt eine der Figuren etwa nach der Hälfte des Stücks. Die lapidare Antwort: „Einfach, weil es in uns ist.“

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