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Kultur: Ach, seliges Wien!

Eine Ausstellung im Historischen Museum entlarvt den Mythos der Stadt als Gefühlsdekor

An Karl Kraus kommt nicht vorbei, wer sich mit dem Mythos Wien beschäftigt. „Ich muss den Ästheten eine niederschmetternde Mitteilung machen: Alt- Wien war einmal neu“, schrieb der kompromisslose Zeitzeuge 1902. Da tobte bereits ein Meinungskampf um das Für und Wider der Modernisierung Wiens. Noch sechs Jahre zuvor hatte Kraus anlässlich des bevorstehenden Abrisses des (Literaten-)Cafés Griensteidl allerdings geklagt: „Wien wird jetzt zur Großstadt demoliert.“ Und: „Mit den alten Häusern fallen die letzten Pfeiler unserer Erinnerungen.“ Solche Ambivalenz ist kennzeichnend für die Einstellungen gegenüber dem „alten“ und dem „neuen“ Wien – Einstellungen, die sich freilich erst bildeten, als der Stadtumbau ein gewaltiges Ausmaß annahm.

„Alt-Wien. Die Stadt die niemals war“, überschreibt das Wien Museum – wie sich das Historische Museum der Stadt seit einiger Zeit nennt – eine Ausstellung, mit der es im Künstlerhaus am Karlsplatz gastiert. „Wien hat sich als eine Art Weltmetropole des Rückblicks etabliert“, haben die Kuratoren Wolfgang Kos und Christian Rapp festgestellt – und dass dieser Rückblick die komplementäre Begleiterscheinung des Wandels ist. Die Ausstellung illustriert das verwickelte Verhältnis von beständig in Angriff genommener Modernisierung und hindernder Verklärung an Hand von Hunderten Objekten. Als nach der Mitte des 19. Jahrhunderts die alten Stadtbegrenzungen beseitigt wurden und jene bauliche Aufwertung begann, die als „Ringstraßenarchitektur“ zur Stilkategorie wurde, erhoben sich die Wehklagen über den Untergang. Die „gute alte Zeit“ wurde beschworen – und eigentlich erst erfunden. Vedutenmaler wie Rudolf von Alt hatten Hochkonjunktur, weil sie genau jene pittoresken Winkel festhielten, die mit einem Mal als Inbegriff von Alt-Wien galten – meist erst in dem Augenblick, da sie Neuplanungen weichen mussten.

Die Ausstellung macht anhand von Plänen, Fotografien und Stadtmodellen ernüchternd deutlich, dass das heutige Bild des geschichtsgesättigten Wien Fiktion ist. Nichts am heutigen Wien ist alt in jenem Sinne, den die Traditionsbeschwörer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts meinten. „Alt“ ist heute genau jenes Wien der Stadtverschönerung, das den Traditionalisten als Untergang des wahrhaft alten Wiens galt. Dieser war ohnedies nicht aufzuhalten. Die Hauptstadt der k.u.k. Doppelmonarchie wuchs von 430000 Einwohnern 1859 bis zur Jahrhundertwende auf 1,9 Millionen. Eingemeindungen und Industrialisierung ließen das Wien des Biedermeier zur „modernen Großstadt“ mutieren, der der Stadtbaurat Otto Wagner ein zeitgemäßes Gepräge zu geben suchte. Die Ausstellung dokumentiert, wie als Seelenbalsam der Schubert-Mythos entstand, der einen harmlos-freundlichen Komponisten auf ewig durch den 9. Bezirk spazieren ließ und ihm das später zum „Singspiel“ verkitschte „Dreimäderlhaus“ andichtete.

Mit der Erinnerung an den Festzug von 1879 knüpft das Wien Museum an seine Ausstellung zum Malerfürsten Hans Makart von 2000 an. Der Historismus erlebte seine höchste Blüte. Es ist das Verdienst der Ausstellung des Museums, gegen den Mythos des entschieden modernen Wien um 1900, wie ihn das eigene Haus, aber auch opulente Ausstellungen von Paris bis New York publikumswirksam beschworen haben, subkutan anzugehen. Eine solche Fülle von Gemütlichkeits-Kitsch, von Postkartenidylle und Schnulzenseligkeit, wie sie ausgebreitet werden, kann kein heutiger Betrachter verkraften. Die Erkenntnis mag schmerzlich sein, ist aber unumgänglich: auch Alt-Wien war einmal neu. Oder genauer gesagt: Alt-Wien war von vorneherein eine Kulisse. Sie diente dazu, die unumgängliche Modernisierung der Großstadt geistig abzuwehren – und wirkt bis auf den heutigen Tag. Nur dass es für den heutigen Tourismus keine Rolle mehr spielt, wie real die Kulisse ist, wenn sie nur als wohliges Gefühlsdekor taugt.

Wien, Künstlerhaus, bis 28. März. Katalog im Czernin Verlag, 575 S., 32 €.

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