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Kultur: Achsen des Guten

„Le Dernier Caravanserail“: das Théâtre du Soleil in der Berliner Arena

Alles rennet, rettet, flüchtet. Ein gewaltiges Ensemble, multinational, vielsprachig – und jeder ist Schauspieler, Komparse, Bühnenarbeiter – stürmt über eine Bühnenwelt, eine Weltbühne aus schwarzen Brettern und grauen Tüchern. Ein sakraler Raum, der permanent entweiht wird. Ein wandernder Ort des Verbrechens, eine Stätte unermesslichen Leids und scheiternder Hoffnungen. Ein Stationendrama, das springt, das kreiselt, das sich schier endlos repetiert zwischen Teheran und Bosnien, Kabul und Paris, Australien und Frankreich. Asylsuchende aller Länder, vereinzelt und vereinigt!

Kleine Formate sind dem Théâtre du Soleil der Ariane Mnouchkine unbekannt. Der Shakespeare-Zyklus Anfang der Achtziger, zehn Jahre später die „Atriden“-Trilogie: Ihre Berliner Gastspiele glichen Triumphzügen, unvergessen. 1996 spielten sie zum ersten Mal in der Arena Treptow, Molières „Tartuffe“ – ein scharfer Hieb gegen den islamischen Fundamentalismus, geprägt von Ariane Mnouchkines leidenschaftlicher Begeisterung für das Orientalische, die nie ganz frei ist von kitschiger Überhöhung. Immer geht es um das Ganze, um eine Welt der sich vermischenden, einander bekämpfenden Kulturen. Brecht scheint als ihr Urahn auf, aber auch Paul Claudel, der katholische Globaltheatraliker; beide Antipoden des Theaters im 20. Jahrhundert waren gleichermaßen von den Ritualen Asiens fasziniert.

Und nun „Le Dernier Caravanserail (Odyssées)“, endlich in Berlin angekommen. Demnächst geht es nach New York, in Kabul wird die Truppe in diesem Sommer Workshops geben, in der heimischen Cartoucherie in Vincennes arbeitet Ariane Mnouchkine an der Verfilmung des Flüchtlings-Epos. Man muss dieses Theater aus seiner Geschichte, aber mehr noch aus seiner Bewegung heraus begreifen: Damals, bei Shakespeare, verwandelten sich die Akteure in atemlose Zwitterwesen, Zentauren: Samurai, die im Stand galoppierten, im Galopp deklamierten. Damals besaß das Théâtre du Soleil, anders als heute, ausgeprägte Schauspielerpersönlichkeiten. In der „Caravanserail“ hat das Ensemble eine große Homogenität, aber keine Solisten. Mnouchkine, die Generalin, hat eine bewegliche Basis gefunden, eine hoch emotionale Motion: Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind ist eine Insel. Sie betreten die Bühne nicht! Sie rollen heran auf schmalen Paletten, geräuschlos, sie werden hinein- und herausgefahren von akrobatischen Helfern, die auf allen Vieren drücken und schieben. Das ist wörtlich zu nehmen. Man sieht gehetzte, von Angst erfüllte Menschen in der Hand von Schiebern, die sie für viel Geld über Grenzen bringen, durch Häfen und Gebirge schleusen, auf Züge springen lassen.

Die Grundidee, nirgendwo gründen zu können, ist so simpel wie grandios, und das hält siebeneinhalb Stunden lang: das Rollen, das Fahren. Und nach jeder der 42 Szenen – auch Häuser, Zäune, Fahr- und Motorräder rollen auf diesen kleinen Umzugsplattformen – rennen die Menschen scheinbar planlos und doch einer glänzenden Logistik gehorchend auseinander, räumen weg, bauen auf, formieren sich neu. Für einen neuen Fluchtversuch. Für einen weiteren Sprung durch Raum und Zeit und Schicksale. Sie bekommen kein Bein auf die Erde. Betreten verboten! Abschiebehaft. Auseinander gerissene Familien.

Die Taliban sind der Hauptfeind – eine Reminiszenz an Mnouchkines „Tartuffe“. Bärtige, finster blickende Typen mit Kalaschnikow und fanatischem Hass am ganzen Körper. Die moralische Rigorosität der Inszenierung (Hatte George W. Bush nicht Recht?!) birgt ihre größte Schwäche: Die islamistischen Terroristen sind Abziehbilder, Cartoonfiguren. Ein bisschen weniger böse erscheinen die osteuropäischen Schlepper an der französischen Kanalküste, rund um das große Flüchtlingselendslager Sangatte; da hat manch einer ein Herz und ein Kind in der Heimat. Da sind auch die europäischen „Sicherheitskräfte“ mal menschlich und verunsichert.

Das Théâatre du Soleil hat sich gewandelt. Videoschirme, Handys, eine Flugzeugtür gehören jetzt zur Ausstattung. Und alles ist beim Alten, mit dem Schwund der Jahre und Jahrzehnte. JeanJacques Lemêtre, der legendäre Herrscher aller Schlagwerke, wirft einen flauschig-esoterischen Klangteppich über die Karawane. Ach, wie schön, wie schrecklich! Am Schluss: Multikulti-Picknick, im Hintergrund tauschen Al-QaidaFinsterlinge Videos und Flugtickets aus. Dennoch: ein riesengroßer Wurf. Wer, wie Ariane Mnouchkine, die ganze Welt umarmen will, greift auch daneben.

Arena Treptow, nochmals heute, 13 Uhr

Rüdiger Schaper

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