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Frauenpower mal fünfzehn. Die isländische Musikgruppe Reykjavikurdaetur.

© Airwaves

Airwaves Musikfestival in Island: Im Norden viel Neues

Hip-Hop und Garagenrock am Polarkreis: Das Airwaves Musikfestival verzaubert Reykjavík mit musikalischen Geheimtipps, großen Stars und dem Charme der Improvisationskunst.

Vor 17 Jahren feierte das Iceland Airwaves Festival in beschaulichem Rahmen Premiere. Damals glaubten nur die wenigsten, dass Reykjavík einmal Standort eines wegweisenden Festivals sein würde. Von Björk oder Sigur Rós abgesehen war Island nicht in der musikalischen Landschaft vertreten. „Wir haben die Musik nicht nach Island gebracht, wir geben ihr nur eine größere Plattform“, sagt Airwaves-Manager Grímur Atlason heute. „In den 80er und 90er Jahren spielten Bands in Privatwohnungen oder an Bushaltestellen vor ein paar Einheimischen, meist betrunken. Jetzt kommen Musikfans aus aller Welt zu uns und begeistern sich für unsere Musikszene. Das ist zu einem Großteil Verdienst dieses Festivals.“

Das Airwaves hat die Musikszene Islands auf eine neue Ebene gehoben, sie professioneller gemacht. Internationale Stars wie PJ Harvey, Santigold, Dizzee Rascal, Julia Holter oder Warpaint treten dieses Jahr neben nationalen Größen wie Björk oder Of Monsters and Men auf. Laut Atlason prägen aber nicht die Publikumsmagneten das Festival, sondern die Nebendarsteller: „Wir wollen spannende, neue Künstler in intimer Umgebung präsentieren.“ Zwar finden die Konzerte nicht mehr an Bushaltestellen statt. Trotzdem beherrscht das Festival weiterhin isländische Improvisationskunst. Für das kostenlose Off-Venue-Programm verwandelt sich Reykjavík in eine gigantische Bühne. Kirchen, Cafés, Klamottenläden, Klassenzimmer, Friseursalons werden zu Spielstätten. Wie eine Decke liegt Klang über der Stadt. Wer Glück hat, zwängt sich in eine der rappelvollen Lobbys, wo Acts wie die Garage-Rock-Legenden The Sonics oder die britische Hip-Hop-Sensation Kate Tempest dem Publikum einheizen.

Das Erfolgsgeheimnis isländischer Musik

Nur wenige Städte haben eine ähnliche Dichte an Musikern, was Reykjavík zum perfekten Ort für ein Festival macht, das laut Manager und ehemaligem Punk Grímur Atlason eine „Tauschbörse moderner Musik“ sein soll. Gefühlt spielt jeder Inselbewohner in mindestens einer der vielen aufstrebenden isländischen Bands – die meisten aber in gleich mehreren. Die in Berlin lebende Sängerin Sigurlaug Gísladóttir tritt mit sechs verschiedenen Bands auf. Für sie ist der Zusammenhalt innerhalb der Szene das Erfolgsgeheimnis isländischer Musik: „Die Insel ist zu klein für Konkurrenzdenken. Wir arbeiten alle an einer gemeinsamen Sache. Diese Mentalität und diesen Austausch gibt es in Großstädten wie Berlin nur selten.“

Das Airwaves ist nicht einfach ein Musikfestival in Island, es ist eine Zelebration isländischer Musikkultur samt ihrer wundersamen Facetten. Am Nachmittag sitzt Ottarr Proppé noch als Vorsitzender seiner Partei „Helle Zukunft“ am Verhandlungstisch. Abends steht er als Frontmann der Kultband Dr. Spock mit Cowboyhut und Gummihandschuhen auf der Bühne und grölt etwas in unverständlichem Isländisch. Am Folgeabend heizt die fünfzehnköpfige feministische Rap- Combo Reykjavíkurdætur der Menge mit ihrem Mix aus Pussy Riot und Spice Girls ein.

Verrückter als anderswo

„Das ist alles etwas verrückter als anderswo“, sagt der junge Rapper GKR, der mit seinem blondierten Haar an Eminem erinnert. „Die Szene verändert sich laufend, weil alles so klein ist und wir Veränderung brauchen. Vor fünf Jahren wurde man hier als Rapper belächelt, jetzt stehen die Leute Schlange, um Künstler wie mich zu sehen.“ Tatsächlich stand das Festival 2016 ganz im Zeichen der Hip-Hop- Welle, die die Polarmetropole erfasst hat. Gerappt wird meist in der Muttersprache. „Natürlich weiß ich, dass das internationale Publikum keinen blassen Schimmer hat, worüber ich rappe“, lacht GKR, „aber ganz ehrlich: wenn die Musik passt, ist die Sprache Nebensache.“ Das unterstreicht auch der Auftritt der Stuttgarter Post- Punker von Die Nerven. Das Trio liefert Endzeitstimmung auf Deutsch. „Ich liebe Achselhaare“ schreit jemand im Publikum, bevor die Noise-Rocker ihr Set mit lautem Gitarrengeschrammel beenden. Völkerverständigung in nördlichen Breitengraden.

Ehrengast ist dieses Jahr Punk-Ikone und Ex-Sex-Pistols-Frontmann Johnny Rotten. Ganz schön schräg und eigen sei man auf diesem Felsen im Nordatlantik, befindet er bei der Eröffnung des ersten isländischen Punkmuseums. „Ihr habt hier immer euer eigenes Ding abgezogen, abgekapselt vom Rest der Welt, und habt damit Erfolg – gefällt mir“. Neben ihm steht ein lächelnder Grímur Atlason. Am Montag dann erinnert nur noch wenig an das Festival. In den Läden in Reykjavíks Einkaufsstraße Laugavegur: Weihnachtskitsch statt Airwaves-Poster. Touristen in Jack- Wolfskin-Montur dominieren wieder das Stadtbild. Der Wind trägt keine Musik mehr, sondern nur noch eisige Kälte. Endlich wieder Ruhe.

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