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Alban Bergs "Lulu": Die Prostitution frisst ihre Kinder

Calixto Bieito enthüllt in Basel Alban Bergs "Lulu". Das Premierenpublikum hat die Inszenierung einhellig gefeiert.

Am Ende ist Lulu ganz nackt. Frontal den Blicken preisgegeben wie eine Puppe im Schaufenster steht sie zitternd auf der Bühne, dass man ihr unwillkürlich ihren schäbigen Nuttenpelzmantel wieder umhängen möchte. Oder wenigstens jene graue Filzdecke, in die sie zu Beginn der Oper gehüllt war, als der Tierbändiger sie großsprecherisch als Sexattraktion seiner Menagerie angekündigt hatte.

Einen kühnen Bogen schlägt Calixto Bieito am Basler Theater über die drei Stunden von Bergs Oper: Nur hier, in den wenigen Minuten ganz am Anfang und ganz am Ende, ist Lulu nicht die perfekt funktionierende Projektion männlicher Triebfantasien, sondern sie selbst: ein schluchzendes Mädchen, das nichts mit dem selbstbewussten Playmate zu tun hat, nach dem die Männer reihenweise verrückt geworden waren. Dass das nicht mehr funktionstüchtige Sexobjekt gleich darauf abgestochen wird, ist da letztlich nicht nur der individuelle Akt eines Serienmörders, sondern scheint der kapitalistischen Logik eines Produktkreislaufs zu gehorchen.

„Lulu“ und Bieito – so nahe scheint dem katalanischen Opernberserker die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Freudenmädchens zu liegen, dass man sich wundert, weshalb es nicht schon früher zu dieser Paarung gekommen ist. Denn schon die Opern Mozarts, Puccinis und Verdis hatte Bieito ja (mit wechselndem Erfolg) nach Belegen für seine Kardinalthese abgeklopft, dass die triebhafte Veranlagung des Menschen sein Glück auf Erden unmöglich macht. Und wo wären die Beweise dafür einfacher zu finden als in Alban Bergs Oper, deren Handlung fast nur durch das Bedürfnis nach Trieberfüllung vorangetrieben wird?

Allzu viel über die Vorgaben des Librettos hinaus muss Bieito denn auch gar nicht tun – außer dass er das erste Bild des dritten (Paris-)Aktes opfert, das den Niedergang Lulus letztlich nur unnötig hinauszögert. Die Bühne (Alfons Flores) ist fast so nackt wie die Hauptdarstellerin – als solle kein Dekor vom allein Wesentlichen, den Menschen, ablenken. Außergewöhnlich wird die Inszenierung durch die erbarmungslose Konsequenz, mit der Bieito seinen Figuren zu Leibe rückt und durch die hautnahe Gegenwärtigkeit, mit der sie einen förmlich anspringen. Denn ähnlich wie die Komische Oper, wo der Katalane regelmäßig zu Gast ist und am 5. April Glucks „Armide“ herausbringen wird, hat auch das Basler Theater jenen Typ Sängerdarsteller, den dieses Theater mehr braucht als alles andere. Die Amerikanerin Marisol Montalvo etwa hat für die Titelrolle zwar keinen überdurchschnittlichen Sopran, aber dafür eine bedingungslose Identifikationsbereitschaft – und dazu sieht sie auch noch so aus, dass sie tatsächlich für den Playboy posieren könnte. Welch eine Wandlung gelingt ihr von den anfänglichen Pin- up-Posen bis zur Tristesse des dritten Aktes, in dem sie nur noch ein Schatten ihrer selbst ist! Ein Opfer, schon lange bevor sie über die Klinge springt. Und, einschüchternd in seiner schieren Brutalität, der Doktor Schön von Claudio Otelli: Wie ausgewechselt scheint der Lebemann, nachdem er Lulu geheiratet hat. Als ob all die Aggression, mit der er seine gesellschaftliche Position errungen hatte, sich plötzlich nach innen richten und diesen Menschen förmlich implodieren lassen würde.

Denn natürlich zeigt Bieito, dass auch die Männer nur Opfer ihres eigenen Triebs sind: Auf die Erfüllung des sexuellen Besitzstrebens folgen unweigerlich Ernüchterung, Einsamkeit und der Drang, sich für die Desillusionierung zu rächen. Am Ende sind es die toten Ehemänner Lulus, die als Freier wiederauferstehen und ihr den Garaus machen – es ist wie so oft in der Oper auch hier die Frau, die für die Unfähigkeit des Mannes zum Glück büßen muss.

Bergs Oper wird so zur nüchternen Bilanz einer Gesellschaft, in der die Menschlichkeit keinen Platz mehr hat, weil das Verlangen nach Sex die Liebe verdrängt hat. Nüchtern auch deshalb, weil Bergs Musik sich ja der Gut-Böse-Schuldzuweisung der romantischen Oper enthält und ehrliche Gefühle nur als Fremdkörper auftauchen lässt: Etwa in den Szenen der Gräfin Geschwitz, die als Einzige bereit ist, den Menschen Lulu zu lieben. Dass diese Rolle hier von einer jungen, attraktiven Sängerin (Tanja Ariane Baumgartner) verkörpert wird, nimmt ihr alles tantig Verdruckste, das ihr sonst oft anhaftet und macht sie zum zweiten großen Opfer der Geschichte.

Am Pult des Basler Sinfonieorchesters unterscheidet Gabriel Feltz sehr genau zwischen diesen Ausbrüchen und dem Grundton von Bergs Partitur. Schwelgerisch und kunstvoll ist der Klang dieser „Lulu“, verspricht sinnliche Erfüllung und verweigert sich zugleich jeder emotionalen Festlegung, ist unter der Oberfläche von einer unbeirrbaren Gradlinigkeit – wie eine elegante Art-Déco-Kinofassade, deren Schein ein zweckorientiertes Sein fast völlig verhüllt.

Am Ende wird diese „Lulu“ übrigens vom Premierenpublikum einhellig gefeiert. Trotz der nackten Tatsachen. Oder vielleicht gerade deshalb.

www.theater-basel.ch

Jörg Königsdorf

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