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Ausgezeichnet. Albert Camus (1913–1960) im Oktober 1957 nach der Zuerkennung des Literaturnobelpreises. Foto: AFP

© AFP

Albert Camus: Im Licht des Mittags

Dichter und Philosoph am Ende aller Ideologien: Albert Camus zum 100. Geburtstag – neue Biographien und eine Trouvaille.

„Ich empöre mich, also bin ich“, hat Albert Camus in seiner 1951 erschienenen Essaysammlung „L’Homme révolté“ („Der Mensch in der Revolte“) geschrieben. Als 60 Jahre später der ehemalige Résistance-Kämpfer und Buchenwald- Überlebende Stéphane Hessel seinen Aufruf „Empört euch!“ vorlegt, einen Weltbestseller, beruft sich Hessel ausdrücklich auf Jean-Paul Sartre als Protagonisten der „engagierten Literatur“. Camus aber erwähnt er mit keinem Wort.

Es war, als hätte Sartre ein letztes Mal über Camus triumphiert, dessen Namen er in den 50er Jahren am liebsten aus den Annalen der Kultur und Politik gelöscht hätte. Camus war der jüngere, besser aussehende und ebenso berühmte Kollege, fast ein Freund in früheren Zeiten. Im Sommer 1942 publiziert der Verlag Gallimard, mit dem Segen der literarischen Mandarine André Malraux und André Gide und dem Desinteresse der deutschen Besatzerzensur, Camus’ Debütroman „Der Fremde“. Kaum 150 Seiten, die den am heutigen Donnerstag vor 100 Jahren in Algerien als Sohn eines französischen Kellermeisters und einer spanischen Analphabetin geborenen Autor aus dem Nichts in die Weltliteratur katapultieren.

High Noon. Ein Mord ohne Grund. In der Sonnenhitze des algerischen Mittags erschießt der Erzähler Meursault einen jungen Araber am Strand, gleichmütig, der erste Schuss löst sich halb aus Versehen, dann drückt er noch viermal ab. Der Mittagsmörder verteidigt sich nicht, auch nicht vor Gericht. Stoisch steht er ein für seine Tat, nur der Priester in der Todeszelle, der für ihn beten will, bringt ihn in Rage, und dieser Zornausbruch wirkt als Erleichterung. In der Nacht vor dem eigenen Tod denkt er wie befreit an seine zu Beginn der Erzählung tränenlos gestorbene Mutter. Plötzlich empfindet Meursault das Glück seines Lebens, erfährt angesichts der Sterne hinter den Gefängnisgittern „die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“. Und so endet der Roman: „Damit sich alles erfüllt, damit ich mich weniger allein fühle, brauche ich nur noch eines zu wünschen: am Tag meiner Hinrichtung viele Zuschauer, die mich mit Schreien des Hasses empfangen.“

Eine poetische Provokation. Kein surrealer, nein, ein hyperrealer Schock. Derart blendend klar, gefühlsstark auf völlig unsentimentale Weise und zugleich jenseits aller moralischen, alltagslogischen Erklärungen hat im 20. Jahrhundert nur noch Franz Kafka geschrieben. Die Absurdität des „Prozess“ kehrt bei dem noch nicht dreißigjährigen Camus wieder in neuer Gestalt. „Der Fremde“ verkörpert jenen Schatten der Moderne, die Entfremdung: gegenüber sich und den anderen.

Jean-Paul Sartre hat über das Buch Anfang 1943 eine große, nicht völlig unkritische Würdigung veröffentlicht. Er sah den „Fremden“ als ersten „existentialistischen“ Roman und legte Spuren zu Martin Heidegger. Aber mit dessen ontologischen Nebeln wollte Camus nichts zu schaffen haben, er, der als Analphabetensohn Philosophie studiert hatte, berief sich eher auf Nietzsche, den Künder des gleißenden, mediterranen Mittags, den Ergründer von Mythos und Tragödie. Seinem „Mensch in der Revolte“ setzte Camus ein Zitat aus Hölderlins „Tod des Empedokles“ voraus. Hölderlin, auch er ein Licht- und Südensehnsüchtiger.

Empedokles hat sich in den Ätna gestürzt. Camus jedoch, von Algier nach Paris gewechselt, mit den Erfahrungen des Weltkriegs, der Résistance, des Faschismus und des Stalinismus, er setzt in so entzauberter Zeit auf die Revolte. Gegen den Selbstmord als mögliche Flucht. Gegen den (Massen-)Mord als tödliche Frucht der Ismen, der Religionen und Ideologien. Das macht diesen Camus auch im 100. Jubiläumsjahr so radikal gegenwärtig. Er ist der philosophische Dichter am Ende nicht der Geschichte. Aber am Ende der Ideologien.

Im berühmten „Mythos von Sisyphos“, der wie „Der Fremde“ 1942 erscheint, war es die Revolte des Einzelnen, die selbst dem nie endenden Bergaufrollen des Sisyphos-Felsen die Würde des Absurden gibt. Die Verbindung von Verzweiflung und Glück. Wobei das Absurde nicht das Sinnlose ist. Womit auch ein Klima- und Eisbärschützer am Rande der Arktis oder ein afrikanischer Brunnenbohrer, der heute scheinbar hoffnungslos gegen die Gletscherschmelze oder die Saheldürre ankämpft, seine existenzielle, tätige Würde erhält. Den Heroismus des Einzelnen aber mit der Gemeinschaft zu verbinden, dafür steht die „Revolte“. Doch ihr Wert legitimiert keinen Terror.

1951, da lebt Stalin noch, lässt Camus im „Revolte“-Buch auf eine geläufige Einsicht einen ungeheuren Satz folgen: „Es ist nicht richtig, die Ziele des Faschismus und des russischen Kommunismus gleichzusetzen. Ersterer stellte die Verherrlichung des Henkers durch den Henker dar, Letzterer die viel dramatischere Verherrlichung des Henkers durch die Opfer.“

Als junger Mann in Algier war Camus in die kommunistische Partei eingetreten und bald als „Trotzkist“ wieder ausgeschlossen worden. Jetzt trifft er die Selbstblendung der kommunistischen Idealisten, andauernd seit den Moskauer Prozessen der 30er Jahre, ins Herz. Ganz abgesehen von Bemerkungen wie: „Der Marxismus ist nicht wissenschaftlich, er ist bestenfalls wissenschaftsgläubig.“

Nicht nur Sartre, der zynisch-sensitive Utopist, schäumte hierüber, das ganze linksintellektuelle Establishment von Paris Saint-Germain schließt Camus als Ketzer aus. Peinlich nur, dass man ihn nicht einen Bourgeois schimpfen konnte, bürgerlich war man selbst, während der Algerienfranzose als Einziger von ihnen aus dem beschwärmten Proletariat kam. Mit kaum 44 Jahren, unfassbar jung, erhält der Verfemte 1957 den Literaturnobelpreis – wohl auch eine politische Entscheidung der Stockholmer Akademie. Weil Camus so prononciert wie kein anderer die Unterdrückung des Budapester Aufstandes im Jahr zuvor als „Sozialismus der Galgen“ gegeißelt hatte.

Jetzt zum 100. Geburtstag ist auf Deutsch auch Michel Onfrays dickleibige Studie „Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus“ erschienen. Sie ist eine vor allem nach innen, ins Milieu der Bernard-Henry Lévys gerichtete Abrechnung mit der ehemaligen „Gauche Kaviar“, mit jener Kaviar-Linke, die erst nach dem Berliner Mauerfall Camus einen Hellsichtigen nennt.

Fast gleichzeitig legen auch die Feuilletonchefs der „Neuen Zürcher Zeitung“ und der „Zeit“ zwei neue Camus-Biografien vor. Nützlicher als Onfrays Mäandern durch das essayistisch-philosophische Werk erscheint mir dabei Martin Meyers „Albert Camus. Die Freiheit leben“. Der Zürcher Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist liefert allerdings keine wirkliche Lebenserzählung, sondern verknüpft biografische Stichworte mit ausführlichen, wohlbegründeten Textanalysen. Wer also eine intelligente Werkbiografie sucht, wird hier fündig.

Temperamentvoller und weniger akademisch erzählt dagegen Iris Radisch ihren „Camus. Das Ideal der Einfachheit“. Ein exzellentes Buch, weil es Dichtung und mögliche Wahrheit als spannenden Lebensroman präsentiert. Iris Radisch hat nicht nur genau gelesen, sie hat auch an den realen Orten Camus’ recherchiert, mit seinen Kindern und Zeitzeugen gesprochen. Radisch überschreibt ihre zehn Kapitel mit zehn Lieblingsworten Camus’ – von „Die Mutter“ bis „Die Wüste“. Das bietet ebenso bissige Pointen (etwa zu den Frauenbildern des Frauenliebhabers A. C.) wie tiefere Einsichten. Die Autorin hat über die 1930er Jahre tatsächlich neue Quellen gefunden für jenen „Mittelmeertraum der französischen Intellektuellen“, der während Sarkozys Präsidentschaft und dann seit der europäischen Nord-Südkrise von Spanien bis Griechenland wieder auflebt.

Klug die Bemerkungen zu „Sisyphos in Auschwitz“, die eine Verbindung schlagen von Camus zum Shoa-Überlebenden Imre Kertész, einem passionierten Leser Camus’. Ein bisschen verkürzt dagegen die Kritik daran, dass aus Angst vor der deutschen Zensur beim Erscheinen des „Mythos von Sisyphos“ 1942 „mit Zustimmung Camus’ in vorauseilendem Gehorsam das Kapitel über den Juden Franz Kafka entfernt“ worden sei. Zur Zustimmung des damals tuberkulosekrank in Algerien daniederliegenden Camus’ teilt Michel Onfrays Buch doch ein paar mindestens mildernde Umstände mit.

Iris Radisch bringt uns den Jahrhundertautor nah. Eine Verführung zum Wiederlesen. Oder gar Hören. Denn Ruthard Stäblein hat in „Leben heißt Handeln. Begegnungen mit Albert Camus“ eine wunderbare Audioauswahl vorgelegt. Camus liest aus einigen seiner Hauptwerke, man hört seinen sanften eleganten Bariton, auch bei der Nobelpreisrede. Dazu eine Trouvaille: Als Albert Camus am 4. Januar 1960 im Wagen des Neffen seines Verlegers Gallimard an einem Baum zerschellt, wird die Tasche mit seinem letzten, autobiografischen Werk „Der erste Mensch“ auf ein Feld geschleudert.

Erst 34 Jahre später wird das Fragment veröffentlicht. Der große Schauspieler Martin Benrath hat Camus’ Erinnerung an die algerische Kindheit dann im Jahr 1999 gesprochen. Benraths letzte Aufnahme vor seinem Tod. Und die Rückkehr ins Mittagslicht des verlorenen Paradieses.

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