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Albrecht Gehses expressiv-visionärer Realismus: Friedrich der Große spielt Oboe auf dem Narrenschiff - während Mutter Theresa das Saxophon hält.

© Albrecht Gehse

Albrecht Gehse Ausstellung: Der Haifisch bleckt die Zähne

Große Show im Schöneberger Gasometer: Nach acht Jahren in der Versenkung präsentiert der Maler Albrecht Gehse seinen Zyklus.

Albrecht Gehse hat die Welt umsegelt. Nicht mit dem Boot, damit segelt der Maler und leidenschaftliche Angler lediglich auf der Ostsee, um meterlange Hechte zu fischen. Nein, der gebürtige Sachse, Jahrgang 1955, ist mit seinem Pinsel gesegelt: auf Leinwänden, die noch größer sind als seine Fischfänge. Er ist in die Vergangenheit gereist, seine eigene und die kollektive, ins Politische und Private. Als Maler ist er tief eingedrungen in den Morast der europäischen Märchen- und Mythenerzählungen, ins 20. Jahrhundert, das Jahrhundert des Traumas, und das neue Jahrhundert, das der Krise. Aus den Tiefen hat der Porträtist von Altbundeskanzler Helmut Kohl Gewaltiges hochgehievt, das in der Malerei lange nicht mehr zu sehen war: einen mächtigen, einen erschütternden Zyklus.

Unter der fast achtzig Meter hohen Kuppel des Schöneberger Gasometers, ein Industriedenkmal, in dem bis zum vergangenen Jahr noch Günther Jauch seinen Polit-Talk moderierte, hat der einstige Schüler von Bernhard Heisig an der Leipziger Hochschule für Graphik und Buchkunst ein „Welttheater“ mit monumentalen Gemälden aufgebaut. Acht Jahre lang hat er in seinem Atelier auf Eiswerder an der Ausstellung „Aufruhr – 50 Bilder über die Welt“ gearbeitet.

Sein Aufbruch in die Tiefen der europäischen Kulturgeschichte begann draußen auf stiller See, erzählt der Künstler, den man in der Ausstellung antreffen kann. Es begann mit freien Assoziationen, die Gehse zu einer Art Drehbuch zusammenstellte. Die im ausgelegten Ausstellungskatalog abgedruckten Notizen helfen dabei, den Ablauf dieses Welttheaters zu verstehen, bevor sich der Besucher mit bedächtigen Schritten über einen Holzsteg den Gemälden nähert. Seitlich des Steges ist Wasser eingelassen, ein höchst ungewöhnliches Setting. Besucher und Bild bleiben also auf Distanz. Doch selbst aus der Ferne packen die gemalten Szenen, brennen sie sich in den Kopf ein. Sie schreien „Sieh hin!“ – ohne einen Ruhepunkt zu geben, den man fixieren könnte.

Es geht um die Malerei in ihrer Totalität

Auf einem Bild schneidet Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, symbolträchtig einen Kuchen an, dessen Boden von Ratten angefressen wird. Nackte Frauen liegen ermordet auf Booten und Bühnen, Haie fliegen mit aufgerissenen Mäulern durch den Himmel, Hechte springen hervor. Hitler, Göring, Röhm und all die Nazischergen finden sich unter den Dargestellten, Putin tritt als einäugiger Zyklop auf, Mephisto und Merkel kommen vor, dazu Soldatenfratzen. Robespierres abgehackter Kopf tränkt den Boden mit Blut, während hinter dem Revolutionär die Bastille lichterloh brennt.

Die Geschichte und Mythen Europas werden auf Gehses Gemälden genauso durchmischt wie die Ölfarben auf seiner Palette. Sie schimmern mal seidig, mal brennen und lodern sie. Damit schafft der Künstler seine ganz eigene, verstörende Leinwand-Mythologie. So setzt er Friedrich den Großen mit buntem Gefolge in Sebastian Brandts Narrenschiff und fantasiert eine „Neue Loreley“ herbei, in der nicht Rheinschiffer mit einem Kahn von einem Ufer zum anderen zu gelangen versuchen, sondern Alt-Bundeskanzler Konrad Adenauer in einem Holzboot das personifizierte Wirtschaftswunder an Land rudert. Dargestellt ist es als ein grotesk fetter, nackter Mann mit Zigarre im Mund.

Wer versucht, diesen gewaltigen Bilderzyklus zu dechiffrieren, der findet nicht für alles eine Entschlüsselung. Gehse geht es in seiner Kunst nicht ums Verständnis allein, sondern um die Malerei schlechthin, ums Hinsehen. „Wer sich heute durchsetzen will,“ sagt der Künstler, „der braucht große Bilder, ein großes Thema.“ Sein erklärtes Ziel bestand darin, zu zeigen, dass er mehr ist als nur ein Porträtist aus der ehemaligen DDR, mehr als nur der Kanzler-Maler. Freunde und Sammler hatten durchaus ihre Zweifel an dem Großprojekt, der Druck war immens. Einsam habe er sich mit diesen riesigen Bildern in seinem Atelier auf Eiswerder gefühlt, beengt, erinnert sich Gehse an die Entstehungsphase. Wer würde das ausstellen wollen, hätten viele ihn gefragt. Und er sich manchmal auch.

Gehse ist bereits auf zu neuen Ufern

Seit Eröffnung der Ausstellung sind die Zweifel endgültig abgefallen, im Gasometer ist davon nicht mehr viel zu spüren. Gehse läuft laut telefonierend die Stege rauf und runter, begrüßt die Besucher persönlich, signiert, lacht. Die Hälfte der Bilder ist bereits verkauft. Er ist angekommen. Und doch ist seine Reise noch lange nicht zu Ende. Der Künstler plant bereits den nächsten Aufbruch. Zu welchen Ufern? Das weiß er selbst noch nicht genau. Von Figuren will er sich entfernen, so der Plan. Sollten sie trotzdem vorkommen, dann nur als Zitat. Sein Atelier hat er einstweilen geräumt und sich ein neues gekauft. Das liegt wieder auf Eiswerder, da gefällt es ihm, aber diesmal ist es kleiner und der Ausblick schöner.

Gasometer Schöneberg, Torgauer Str. 12–15, bis 10. Juli; Di bis So 13–19 Uhr, Katalog (Hirmer Verlag) 39,90 €.

Giacomo Maihofer

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