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Kele Okereke hat die Gitarre in die Ecke gestellt. Er experimentiert jetzt lieber mit Synthesizern.

© Witchita

Albumkritik: Die Endorphin-Maschine

Befreiungsschlag: das Solodebüt von Bloc-Party-Frontmann Kele Okereke.

Das kleine Kruzifix muss noch schnell in Sicherheit gebracht werden. Kele Okereke zieht das Goldkettchen über den Kopf und legt es im hinteren Bühnenteil ab – jetzt kann die Extase beginnen. Die ersten Beats von „Tenderoni“ erklingen, der Synthesizer kommt dazu, eine weitere Schlagzeugspur, die Spannung steigt und steigt, bis sie in einer verzerrten Fanfare erlöst wird. Die Zuschauerarme fliegen in die Luft, der kollektive Endorphin- Kick setzt ein.

Es ist Samstagnacht im vollgestopften Weekend Club am Alexanderplatz, der letzten Station auf einer kleinen Vorabtour zu Kele Okerekes erstem Soloalbum „The Boxer“. Strahlend steht der 28-Jährige vor seinen drei Mitmusikern an der Bühnenkante. Mit seinem Basketballtrikot, den eng am Kopf geflochtenen Zöpfen und den durchtrainierten Oberarmen sieht er aus, als käme er gerade von einem Streetball-Platz. Doch sein Sport heißt heute Party und so wirft er sich zum Crowdsurfen ins Publikum.

Nicht annähernd so enthusiastisch war der Londoner bei seinen letzten Berlin-Auftritten zu erleben. Als routinierter Showman wickelte der Sänger und Gitarrist die Konzerte seiner Indierockband Bloc Party ab. Sein Herz schien nicht mehr ganz bei der Sache zu sein. „Im letzten Jahr mit Bloc Party waren wir alle einfach müde: vom ständigen Touren, voneinander und vom Musikmachen. Wir brauchten eine Pause“, bekennt er im Gespräch.

Deshalb nahm sich das Quartett, das seit seinem Debüt „Silent Alarm“ (2005) zur ersten Liga des Neo-Brit-Pop gehört hatte, eine zwölfmonatige Auszeit. Kele Okereke richtete seine neue Wohnung ein, lernte Kickboxen – und fand sich bald darauf in einem Aufnahmestudio wieder. Denn lange herumtrödeln ist nicht die Sache des katholisch erzogenen Sohns nigerianischer Einwanderer.

Er vertiefte sich in die Welt der Synthesizer, Sequenzer und Drumcomputer, was einen geradezu magischen Effekt auf ihn hatte. „Ich war so aufgeregt wie beim ersten Mal als ich eine Gitarre in der Hand nahm. Alles war plötzlich wieder spannend“, sagt der Musiker, der inzwischen nur noch unter seinem Vornamen auftritt. Das Album aufzunehmen beschreibt er als „befreiende Erfahrung“, was vor allem an den Produktionsbedingungen elektronischer Musik liege. Finden Bloc Party beim gemeinsamen Jammen und Ausprobieren zu ihren Songs, hat Okereke es jetzt mit Maschinen zu tun, denen er genau sagen kann, was zu tun ist.

Allerdings hat er „The Boxer“ nicht im Alleingang eingespielt. Immer wieder erwähnt Okereke, wie wichtig ihm der Input des New Yorker Produzenten Alex Epton alias XXXchange gewesen sei. „Ich kann schlecht Kontrolle abgeben, aber ich habe Alex vertraut. Schließlich wollte ich keinen Jasager an meiner Seite. Wir haben uns auch mal gestritten – etwas, das ich bei Bloc Party zuletzt vermisst habe.“

All das – die Befreiung, die Experimentierlust und die wiedergefundene Leidenschaft fürs Musikmachen – ist dem Album deutlich anzuhören. Schon im Eröffnungsstück „Walk Tall“ stellt Okereke seine neuen Spielzeuge genüsslich aus. Er lässt die Synthie-Sirenen machtvoll aufheulen, fährt einen Handclap-Beat ab und packt dann noch einen rappeligen Drumcomputer dazu. In „Rise“ überlässt er die Melodie zunächst Marimbafon und Glockenspiel, um den Song dann in eine bombastische Mutmacher-Hymne zu überführen.

Die zehn Tracks oszillieren zwischen House, Garage, 2-Step und R ’n’ B. Sie drängen allerdings mit Ausnahme der fantastischen Single „Tenderoni“ nicht in den Club. Dafür sind sie dann doch etwas zu verkopft. Gitarren spielen auf „The Boxer“ fast keine Rolle. „Unholy Thoughts“ kann immerhin mit einem treibenden Bass im New-Order-Stil aufwarten, es ist der „rockigste“ Song der Platte. An Bloc Party erinnert außer Okerekes Gesang wenig. Auch hier hat sich der Engländer, der demnächst nach New York umziehen wird, auf Neuland vorgewagt. Mal ist seine Stimme verzerrt, mal gepitcht, mal erklingt sie im Duett mit einer Frau. Eine außergewöhnliche Sanftheit zeigt er in „New Rules“ und „All the things I could never say“, über die er sagt: „Derart nackt war ich stimmlich noch nie zuvor. Ich wollte zerbrechlich klingen.“

Überraschend kommt Okerekes Hinwendung zu neuen Sounds indes nicht. Schon beim zweiten Bloc-Party-Album „A Weekend in The City“ war seine Experimentierfreudigkeit zu hören, zudem gab es zwei Remix-Alben. Als Okereke beim Konzert den Bloc-Party-Song „The Prayer“ in einer Elektro-Version spielt, klingt das wie eine Richtigstellung. Und es funktioniert: Schreiend begrüßt die Menge den nächsten Endorphin-Kick.

Kele „The Boxer“ erscheint am Freitag bei Wichita / Cooperative Music.

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