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Kultur: Allee der Enthusiasten

Heimat Plattenbau: Eine Ausstellung zeigt das private Glück in den Hochhausblöcken von Marzahn

Ein eisiger Wind fegt über die Allee der Kosmonauten. Mit hochgeschlagenem Kragen und in geduckter Körperhaltung eilen Anwohner von der Tramhaltestelle durch das größte städtebauliche Ensemble, das die DDR hinterlassen hat, nach Hause: Berlin-Marzahn. Viele Plattenbauten wurden nach der Wende aufwendig saniert, in die Versorgungsriegel zwischen den Hochhäusern hat die Warenwelt von Plus, Schlecker, Aldi Einzug gehalten. Trotzdem stehen viele Wohnungen leer, an den Fenstern hängen Werbebanner: „20 m² mehr Wohnung gratis“.

Das Haus an der Allee der Kosmonauten 145 wirkt wie ein Museumsstück. Während die Nachbargebäude längst bunt geworden sind, verströmt seine Waschbetonfassade noch immer das fahle Graubraun, das die Neubausiedlungen der DDR prägte. Nr. 145 ist ein „WHGT 18“, ein so genanntes „Wohnhochhaus Großtafelbau“ mit 18 Stockwerken. Von außen unterscheiden sich die Geschosse nur durch die Farben – moosgrün, beige, pink –, in denen die Mieter die Wände ihrer Balkone gestrichen haben. Auch die Rüschentapeten und Blumenarrangements hinter den Fenstern erzählen von Eigensinn und Individualismus. Vom 17. Stock geht der Blick über den elegant geschwungenen Neubau des Siemens-Gymnasiums, eng beieinander stehende Einfamilienhäuser und dicht gestaffelte Hochhausblöcke auf die durchgrünten Stadtrandbezirke von Hönow und Ahrensfelde. Von oben sieht Marzahn sehr sympathisch aus. In einer Wohnung, die lange leer stand, ist jetzt eine Ausstellung zu sehen: „Einblicke und Ausblicke aus der Platte“.

Die Soziologin Ylva Queisser und die Fotografin Lidia Tirri haben ein Jahr lang das Leben in der Satellitenstadt erforscht. Queisser, eine gebürtige Schwedin, hat ausführliche Interviews mit 16 Familien und Bewohnern der Allee der Kosmonauten geführt, die Italienerin Tirri dokumentierte deren Alltagswirklichkeit in ihren Aufnahmen. „Marzahn ist sehr negativ besetzt“, sagt Queisser. „Wir wollten erfahren, wie es wirklich ist, in so einer Großsiedlung zu wohnen.“ Die Antwort: die Menschen, mit denen die beiden Ausstellungsmacherinnen sprachen, leben gerne in Marzahn, die Platte ist noch immer überraschend beliebt. Längst ist in dem von außen so trostlos erscheinenden Hochhausareal, das sich dem Reißbrett verdankt, ein Heimatgefühl entstanden.

Das Verhalten der Familie Klenner, die seit 1977 in Marzahn lebte, darf als symptomatisch gelten. Nach der Wende zog Lehrer Wilfried Klenner mit Frau und Tochter nach Karow, weil „wir den Betonblock-Rappel bekamen“. Inzwischen sind sie in ihren alten Bezirk zurückgekehrt, nun konstatiert Herr Klenner: „Nach vier Wochen, die wir hier wieder wohnen, sage ich, ich habe mich seit Jahren nicht mehr so wohl gefühlt.“ Was er allerdings vermisst, ist das alte „Wir-Gefühl“. „Jetzt gibt es Grenzen, die früher nicht da waren.“

Vor zwei Jahren hatten Ylva Queisser und Lidia Tirri schon einmal mit einer Ausstellung für Aufsehen gesorgt. Damals untersuchten sie den Mikrokosmos der Karl-Marx-Allee, die als Stalinallee das pompöse Aushängeschild des SED- Regimes hatte werden sollen. Die Schau tourt inzwischen mit dem Goethe-Institut durchs Ausland, im Februar kommt sie nach Shanghai. Die Karl-Marx-Allee kündet vom Aufbaupathos und vom Optimismus der unmittelbaren Nachkriegs- DDR, die Ornamente an den Zuckerbäcker-Fassaden zeugen vom Luxus, den sich der Sozialismus zu dieser Zeit noch gönnte.

In den Siebzigerjahren war die Siegesgewissheit aufgebraucht, die Planung der Großsiedlungen folgte schlichtem Pragmatismus. Die Situation auf dem Wohnsektor war katastrophal, Honecker verkündete, dass jeder DDR-Bürger bis 1990 eine Wohnung bekommen solle. Ende 1977 war der erste Neubaublock in der Marzahner Marchwitzastraße fertig, bis 1989 fanden rund 150 000 Menschen in dem vormaligen Dorf eine neue Unterkunft. Der Ausbau erfolgte in drei Stufen, das erste Zentrum lag am Helene-Weigel-Platz, von dort aus wurde die Siedlung Richtung Ahrensfelde erweitert. Den Masterplan für Marzahn lieferte der Architekt Heinz Graffunder, der auch den Palast der Republik gebaut hat.

Anfangs folgte die städtebauliche Planung noch den Idealen der Bauhaus-Bewegung. Die Wohnblöcke wurden weit auseinander gestellt, sie sollten ein Gegenentwurf sein zu den Mietskasernen der Berliner Innenstadt mit ihren engen und dunklen Hinterhöfen. „Das Konzept war: viel Sonne, viel Grün, überall sollten Kinder spielen können“, erzählt Queisser. „Das hat nicht lange funktioniert, weil das Material knapp wurde. Die Ausstattung der Wohnungen wurde schlechter, die Häuser setzte man immer enger nebeneinander.“

Die Architekturhistorikerin Simone Hain erinnert sich in ihrem Katalogbeitrag daran, dass nach der Ausrufung des Kriegsrechtes in Polen unter Städteplanern die Rede davon war, der DDR stünde nach eine Phase der „Weite und Vielfalt“ eine „Zeit des Einbunkerns und Eingrabens“ bevor. Aber auch die Parteiführung wurde von Angst getrieben, sie drängte eisern auf Planerfüllung. „Je weiter es auf 1990 zuging, desto mehr trat der quantitative Wohnungszuwachs in den Vordergrund“, berichtet der Architekt Wolf-Rüdiger Eisentraut. „Es war unvorstellbar, dass beim großen Parteitag jemand aufstehen und sagen könnte: Ich habe keine Wohnung.“

Die Ausstellung schwelgt durchaus auch in Nostalgie. Die Wohnung, in der sie inszeniert ist, wurde den Machern von der Genossenschaft, der das Haus heute gehört, kostenlos zur Verfügung gestellt. Es gibt eine originale Küchendurchreiche aus Holz und vielen Schiebefenstern, auf dem Boden glänzt altes Linoleum, DDR-Sofa und -Lampe wurden vom Bezirksmuseum Marzahn-Hellersdorf ausgeliehen.

Es geht um die Winkel des kleinen privaten Glücks, das sich die Bewohner in der tristen Gleichförmigkeit ihrer als WBS 70 („Wohnungsbauserie 1970“) oder „Coupe 71 Querplatte“ firmierenden Häuser einrichteten und – wie die Fotos belegen – bis heute bewahrten. „Von Architektur konnte keine Rede sein“, sagt einer der Befragten, aber das hat die Menschen, die sich Marzahn zur Heimat machten, nicht weiter gestört. Zentralheizungen, Innenbäder und Aufzüge galten zu DDR-Zeiten als anderswo unerreichbarer Luxus, heute schätzen die Bewohner die „Sicherheit“ ihrer Häuser, die teilweise über einen Concierge-Dienst verfügen, der am Sonntag auch schon mal Zeitungen und Brötchen besorgt.

Ylva Queisser lebt in Friedrichshain, Lidia Terri in Mitte. Trotzdem sind die beiden Stadtforscherinnen inzwischen der seltsamen Magie Marzahns verfallen. Tirri, die Fotografin, schwärmt: „Wenn abends sich die blaue Stunde über die Hochhäuser senkt und überall die Lichter angehen, spürt man ganz stark das Gefühl, wirklich in einer Großstadt zu sein.“

Allee der Kosmonauten 145, 17. Stock (S-Bahnhof Springpfuhl, Tram 8 und 18, Haltestelle Elisabethstraße). Die Ausstellung wird heute um 19 Uhr eröffnet, sie ist bis 23. Januar Mi-Fr 15-19, Sa/So 13-19 Uhr geöffnet.

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