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Kultur: Alles geschafft. Trotzdem Leere

Lebenszeichen aus dem Sumpf: Einar Schleefs Ostberliner Tagebuch 1964–1976

Wie man im Sozialismus real existierte, davon war in der Literatur des real existierenden Sozialismus wenig zu lesen. Was für die Epoche „typisch“ war, bestimmte die Doktrin des sozialistischen Realismus; was davon abwich, galt als subjektivistisch. Es dauerte zwei von vier Jahrzehnten der DDR, bis sich das literarische Subjekt in der Lyrik der „Sächsischen Dichterschule“ zu Wort melden durfte. Oder in den Romanen von Christa Wolf, Erich Loest und Brigitte Reimann, die erstmals individuelle Bilder der DDR-Wirklichkeit lieferten.

Dass das noch nicht die ganze Wahrheit war, wissen wir aus damals unterdrückten Aufzeichnungen: etwa Klaus Poches „Atemnot“ oder den nachgelassenen Tagebüchern von Brigitte Reimann. Daneben treten jetzt die Tagebücher von Einar Schleef. Ihre ersten zwei Bände – von fünf angekündigten – beleuchten seine Kindheit und Jugend in Sangerhausen und die ersten Berufsjahre als Maler und Bühnenbildner in Ostberlin.

Über seine Auseinandersetzung mit anderen Autoren geben die Tagebücher erschöpfende Auskunft, bis hin zur sarkastischen Reaktion auf Brigitte Reimann, auch sie könne „Hoyerswerda nicht zum Pariser Sumpf umdichten“. Ebenso wenig hat er Heiner Müller und dem Berliner Ensemble zugetraut, Hellas nach Ostberlin zu verlegen. Für ihn waren alle auf dieser Bühne behandelten Probleme „Pseudoprobleme der DDR, die die Darstellung eines ungeschönten DDR-Alltags verbieten“. Seine eigene Darstellung konnte er erst im Westen auf die Bühne bringen: „Berlin ein Meer des Friedens“, noch in der DDR geschrieben, uraufgeführt in Heidelberg 1983.

Wir können von Glück sagen, dass der Suhrkamp Verlag sich vorgenommen hat, Schleefs Prosa-Hauptwerke – „Gertrud“ (1984), der bisher in zwei ersten Bänden vorliegende Lebensroman seiner Mutter, und die „Tagebücher“ – vollständig zu veröffentlichen. Sie könnten so neben das Werk von Uwe Johnson treten, an das Schleefs Tagebücher von 1953 bis 1976 fast chronologisch anschließen. Johnson, der die DDR 15 Jahre vor Schleef verließ, hat vor allem ihre Frühgeschichte beleuchtet. Schleef begleitet sie bis ins wiedervereinigte Deutschland.

Er hat Johnsons Bücher schon 1965 in Ostberlin gelesen, wie seine Tagebücher bezeugen: mitgebracht von einer Gönnerin aus Westberlin, die „jeden Tag die Grenze passiert, Netze mitschleppt, Gummistrümpfe, alles wertloses Zeug und Suhrkampbände. Sie stellt sie nebeneinander auf meinen Tisch: UWE JOHNSON. Trinkt Kaffee, der Kuchen vom Eckbäcker schmeckt, sie lobt mein altes Geschirr, die Möbel meiner Großeltern, die meine Mutter nach Berlin bugsiert, damit ich mich wohl fühle. Sie fragt mich, ob das zu mir passt, ob ich ewig hier bleibe, ob die Hochschule gut, wieso ich mich ständig gängeln lasse?“

Ja, wieso eigentlich? Das ist eine unendliche Geschichte, die er in seinen Tagebüchern teils beschreibt, teils kommentiert; nicht als „Schönschliff“, wie er sich ausdrückt, sondern um Unausgesprochenes nachzutragen und manches bloß Hingeworfene zurechtzurücken. Sein Leben lang beklagt er, nicht nur wegen seines Stotterns, die eigene „Scheu, besser das Unvermögen etwas zu fixieren“ – und versucht es dennoch in immer neuen Anläufen, die seine Arbeitsmethode charakterisieren.

Die Tagebücher stecken voller Preziosen wie dem Porträt des Malers Otto Nagel, den Notaten „Stalinallee“, „Wahlsonntag“ und „Republikflucht“ oder einem hingeworfenen Stimmungsbild: „11.4.67. Milde Süße des Abends. Ahnungen. Der Friedhof verschickt Einladungen.“ In einem Hund, der ihn auf Wanderungen in der CSSR begleitet, begegnet er sich selbst: „Eine Promenadenmischung, der dann zu einer Art Untier wird, je mehr wir uns 1968 nähern, umso verwachsener wird dieser Hund, bis er ein bissiger, verstörter Köter ist, der nicht mehr weiß, wohin er gehört und zu wem, ein heimatloses Vieh, was daran verrückt wird. In diesem Hund erkenne ich mich wieder.“

Für den Kunststudenten beginnt seine Geschichte mit einem charakteristischen Bruch: seiner Exmatrikulation wegen „Disziplinlosigkeit“ im Februar 1965. Es droht der Entzug der – ans Stipendium gekoppelten – Aufenthaltsgenehmigung in Ostberlin. Schon damals fürchtet seine Mutter, mit der er in fast symbiotischer Verbindung steht, er könne gezwungen werden, die DDR zu verlassen: „Noch ein Kind im Westen, das wollten meine Eltern nicht, sie hätten mich denunziert, wäre ich mit dieser Absicht gekommen.“

Stattdessen macht er weiter, als wäre nichts geschehen. Zeichnet und fotografiert auf dem Jüdischen Friedhof, streicht durch die Berliner Museen und Kinos (deren Filme er wie seine Lektüre mit Schulnoten bewertet, von „Note 1“ bis „Scheiße“) und reist mit seinem Freund Lothar Trolle nach Prag. Dort notiert er im Tagebuch: „Was maßt sich eine Regierung an? Wofür? Ich kann keine gesetzliche Ordnung anerkennen, denn sie ist nicht für mich geschaffen.“

Dennoch fügt er sich schließlich den Auflagen der Hochschule, sich bis zu einer Neubewerbung „in der Produktion“ zu bewerben: als Hilfszeichner für die Comic-Serie „Digedags“ und in verschiedenen Theaterproduktionen. 1967 kann er sein Studium wieder aufnehmen. Er unterschreibt sogar gegen seine Überzeugung eine Erklärung in der Hochschule, die den sowjetischen Einmarsch in Prag begrüßt; sein Mentor Karl von Appen, der ihn als Meisterschüler annimmt und ihm die ersten großen Theaterarbeiten ermöglicht, hat die Intervention im „Neuen Deutschland“ als „heilsame Maßnahme“ gerechtfertigt. Für Schleef bleibt sie ein offene Wunde, doch er ist finster entschlossen, den Abschluss an der Kunsthochschule zu erzwingen. Als es so weit ist, notiert er am 11.3.1971: „Alles was ich wollte geschafft. Diplom. Meisterschüler. Trotzdem Leere. Was jetzt.“

Eigentlich weiß er es: Regie führen. Es genügt ihm nicht mehr, Bühnenräume zu gestalten und Texte für die Schublade zu schreiben: „Man musste Regisseur werden, wollte man eine Aufführung nicht an die unterschiedlichen Zuständigkeiten abtreten und damit verlieren.“ Schließlich kommt er – sein Abschied von der DDR 1976 – ans Wiener Burgtheater, über das er 1966 geschrieben hat, es kröne die Laufbahn eines Regisseurs. Diesmal lässt ihn seine Mutter ziehen, ihr ist „nach dem Tod des Vaters alles egal, sie schien es gar nicht wahrzunehmen“. Aber als man ihr zum zweiten Mal die Besuchsgenehmigung abgelehnt, „verfluchte sie die DDR, jeden Tag wollte sie, so GERTRUD 3, diesen Staat seinem verdienten Ende näher bringen.“ Das ist nun nicht ihr, aber ihm gelungen.

Einar Schleef: Tagebuch 1964–1976 Ostberlin. Hg. von Winfried Menninghaus, S. Janßen und J. Windrich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006. 480 Seiten, 30 €.

Hannes Schwenger

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