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Kultur: Allzeit bereit

No Sex, no Drugs, no Rock’n’Roll: Die Pfadfinder wurden 1907 als Bewegung gegen die Moderne gegründet. Heute schätzen wieder viele Jugendliche ihre festen Regeln

Es platscht in den Kartoffelsalat und auf die Würste. Die Wände der fünf großen Jurten biegen sich im Wind, Äste krachen auf die Wiese. 45 Pfadfinder rennen wie um ihr Leben in die Scheune. Und wieder raus in den Donner und ins Blitzen, noch mal die Zeltleinen festzurren, noch mal die Heringe in den Boden treten.Um die Faszination zu verstehen, die vom Pfadfindersein seit 100 Jahren ausgeht, reicht die Beschreibung solcher Herausforderungen nicht aus. Wir lassen deshalb die Jugendlichen des Berliner Pfadfinderstammes St. Dominicus auf dem Zeltplatz im Wendland zurück und fahren zu einem alten Mann.

Er ist 86 Jahre alt und sitzt in kurzen Hosen und weißem gerippten Unterhemd in seinem Reihenhaus in Spandau am Küchentisch. Gerhard Kolibaba hat 1931 einen der ersten Berliner Pfadfinderstämme aufgebaut. Harte Männer wollten sie sein, damals in den 20er Jahren, „harte, gesunde, kräftige Männer, die im Staat mal die Eins werden“, sagt Kolibaba. „Hatte auch mit dem verlorenen Krieg zu tun, wissen Sie.“

Das Laufen fällt ihm schwer, ins obere Stockwerk fährt er mit einem Treppenaufzug. „Aber als alter Pfadfinder bin ich um Selbstständigkeit bemüht.“ Kolibaba kauft ein, kocht, wäscht und ringt jeden Tag neu mit dem Gefühl, in seinen alten Knochen wie in einem Gefängnis zu leben. Wie lange er Pfadfinder war? Er versteht die Frage nicht. „Pfadfinder sein ist wie eine Brille, durch die man die Welt sieht.“ Ein Pfadfinder sei einer, der seinen Weg durchs Leben findet und durch den Dschungel der Meinungen. Ein Pfadfinder ist treu, hilfsbereit, höflich und ritterlich, stets gut gelaunt und sparsam. Ein Pfadfinder gehorcht ohne Widerrede. Ein bisschen nur muss der alte Mann überlegen, dann fallen sie ihm alle wieder ein, die Pfadfindergesetze. Sie gelten für ihn heute immer noch. Zum Beispiel, dass man nicht aufgibt, auch wenns hart kommt, sondern durchhält, seine Pflicht tut. „Allzeit bereit, auch zu sterben.“

Lust an der Askese

Die Kleinen von St. Dominicus sind jetzt alle in der Scheune. Zwei Mädchen weinen, eine hat ihren Schlafanzug im Zelt vergessen. Aber Britta hat schon die Gitarre ausgepackt, um mit den kleinen „Wölflingen“ gegen die Angst anzusingen. Die etwas Älteren, die Jungpfadfinder und die Pfadfinder freuen sich über den Sturm. Endlich passiert etwas. Die Rover, so heißen die 17- und 18-jährigen Pfadfinder, trainieren, Verantwortung zu übernehmen. Da kommt Olaf wieder rein. Wasser läuft von seinem kahl geschorenen Schädel; das T-Shirt klebt an seinem kugelrunden Bauch. Olaf ist 37 und einer der Leiter. Er dreht richtig auf, jetzt wo seine Hilfe so richtig gefragt ist. Er baut Biertische auf mit einem Gesichtsausdruck, als wäre er im Vorstand von Daimler-Chrysler und würde jetzt eine positive Jahresbilanz verkünden: ernst, zufrieden, stolz. Mittlerweile steht der Zeltplatz unter Wasser; es wird wohl auf eine Nacht in der Scheune hinauslaufen. Drüben, im Wohnhaus stehen Stockbetten. Aber Olaf sagt: „Die sind viel zu bequem. Wir sind Pfadfinder und nicht bei der Stadtranderholung mit Spiel, Spaß, Spannung und so.“

Immer weniger Deutsche können sich den hohen Lebensstandard der vergangenen Jahre leisten und entdecken die Lust am einfachen Leben und an der Askese, wie sie die Pfadfinder seit 100 Jahren zelebrieren. Und weil immer mehr Kinder sozial verwahrlosen, dämmert es vielen Eltern, dass feste Werte wie Treue, Solidarität und Verantwortung durchaus ihr Gutes haben. Außerdem bieten die Pfadfinder etwas, das rar geworden ist: einen Entwurf fürs ganze Leben. Immer mehr Familien schicken deshalb ihre Sprösslinge wieder zu den Mädchen und Jungen mit Kluft und Halstuch – weil sie die Gemeinschaft in wöchentlichen Gruppenstunden und auf Zeltlagern pflegen, weil sie sich an klare Gesetze halten und für einander da sind.

Über 30 Millionen Pfadfinder gibt es heute weltweit, die meisten davon in den USA, in Großbritannien und in Polen. Es ist die größte Jugendorganisation der Welt. Auch Harald Schmidt, Herbert Grönemeyer, Hillary und Bill Clinton sind trainierte Fährtenleser. In Deutschland tragen 200000 Jungen und Mädchen Kluft, Dreieckstuch und Knoten. Mehr als die Hälfte davon sind katholische Pfadfinder. Auch die, die gerade gegen den Sturm kämpfen, sind katholische St. Georgs-Pfadfinder. In Berlin haben die Katholiken elf „Stämme“ mit insgesamt 600 Jugendlichen. Es könnte noch mehr Gruppen geben. Kinder, die Pfadfinder werden wollen, gibt es genügend. Aber es fehlen die Erwachsenen, die die Gruppen leiten.

Das liegt daran, dass heute niemand mehr den Jugendlichen Vorbild sein will, sagt Kolibaba. Dadurch würden sich alle schuldig machen am allgemeinen Niedergang. Kolibaba ist nach dem Krieg Lehrer geworden und hat sich seinen Schülern gegenüber immer als Vater gefühlt. Natürlich habe er von ihnen auch Disziplin verlangt. „Ohne geht’s nicht“, sagt er. Disziplin ist für ihn genauso selbstverständlich wie das Tragen der Pfadfinderkluft. Auf alten Fotos hat Kolibaba schwarze kurze Hosen aus Ribbelsamt an, ein grünes Hemd und ein blaues Halstuch. Er zieht es für den Fotografen gerne noch einmal über.

Auch für den englischen Lord Robert Baden-Powell, den Begründer der Pfadfinderbewegung, war die Kluft selbstverständlich. Er war an Uniformen vom Militär gewohnt. Baden-Powell kämpfte in Afrika gegen die Buren, als er entdeckte, wie viel man von afrikanischen Stämmen für die Kriegstaktik lernen konnte: Ausdauer, Fährten lesen, genau beobachten. Und weil Baden-Powell überzeugt war, dass sich jeder Junge nach Abenteuern und einem Leben unter freiem Himmel sehnt, schrieb er 1907 eine Fibel für den „Friedens-Pfadfinder“. Das war der Anfang der Bewegung. Kurz danach wurde sein Buch ins Deutsche übersetzt. Es fördere die Gemeinschaft, wenn alle Jungs das Gleiche tragen, dachte Baden-Powell, eine Gemeinschaft der Starken und Zielstrebigen, der Mutigen und Opferbereiten. Diejenigen, die ein Problem mit Uniformen hatten, Schwächlinge, Schlamper oder „genusssüchtige“ Großstadtmenschen zum Beispiel, für die hatte er sowieso nichts übrig.

Denn die gingen wie Kolibabas 15-jährige Mitschüler sonntags am liebsten ins Kino oder zum Tanzen oder trafen sich mit Mädchen. Kolibaba und seine Freunde fuhren in die Wälder, nach Hennigsdorf, nach Tegel, „raus aus dem seichten Kribbelzeug der Stadt“. „Wir wollten nicht dem weichen Zeitgeist nachgeben, sondern gegen den Strom schwimmen, harte Jungs sein.“ Zelten, kochen, alles selber machen, mit Stöcken umrühren. Wenn Erbsen im Topf waren, brannten sie meistens an, aber das war ihnen egal.

Teamgeist steht ganz oben auf der Liste der erstrebenswerten Charaktereigenschaften der Pfadfinder. Denn von Anfang an hatten sie einen klaren Feind: die Moderne mit ihren Begleiterscheinungen Individualisierung, Kommerz und der Unterhaltungsindustrie. Sie bewirke bei Kindern Konsumhaltung, Passivität und Egoismus, steht in den Pfadfinderhandbüchern. Dagegen setzen die Pfadfinder ein Erziehungsprogramm, das sich durch alle Altersstufen zieht, von den siebenjährigen Wölflingen bis zu den erwachsenen Rovern. Mädchen hatten damals nichts bei den Pfadfindern zu suchen, genauso wenig wie Nazis. „Wo Sex im Spiel ist, da hört der Verstand auf“, sagt Kolibaba. „ Und die Nazis, die tickten ja nicht richtig.“ Waren keine harten Jungs, schliefen in Jugendherbergen statt in Zelten, „posierten“ mit Mädchen. Und machten sich lustig über das Religiöse: „Alles, was uns heilig war, haben die verunglimpft“, sagt Kolibaba, „die Werte in Misskredit gebracht.“

Die Nazis haben die Pfadfinderei 1938 verboten. Die Pfadfinder haben trotzdem weiter gemacht, sich karierte Schottenhemden angezogen und sich an einem Geheimgruß mit der linken Hand und am Pfiff erkannt. Über Kolibabas Bett hängt ein Bild vom Bamberger Reiter. So wollte er sein, wie ein Ritter im Mittelalter, die mussten als Knappen erst ihrem Herrn dienen und dann dem König. „Die hatten einen Sinn im Leben“, sagt er.

Pfadfindersein ist eine Glaubenssache. Und in Berlin gibt es ganze Pfadfinder-Dynastien, die daran glauben, dass einen das Schlafen auf hartem Boden, das gemeinsame Fährtenlesen und Zeltebauen zum besseren Menschen macht und dass man Teil von etwas ganz Besonderem ist. Und wer davon überzeugt ist, für den ist der Boden auf einmal nicht mehr hart, der Regen nicht unangenehm, für den ist es auch nicht anstrengend, die Zeltleinen festzuzurren und sich immer einer Gruppe anpassen zu müssen. Auch die Kwasigrochs sind so eine Familie, bei denen die Pfadfinderei wie mit einem Zelthering im Familienbuch verankert ist. Vater Johannes, heute 62 und im Bezirksamt Neukölln mit Stadtplanung beschäftigt, wurde 1952 vom Pfarrer überredet, Pfadfinder zu werden, „weil mir die anderen Jugendgruppen und was sonst so in der Stadt geboten wurde, zu fade waren“. Die Pfadfinder, die haben was losgemacht, jedes zweite Wochenende ab in den Tegeler Forst und montags in der Schule, „da hatten wir was zu erzählen, die anderen nicht“.

Kwasigroch, klein, Brille, kariertes Hemd, sitzt in seiner engen Amtsstube, blättert im Pfadfinderausweis. Der Wettkampf mit anderen Stämmen, man war so stolz, wenn man was erreicht hatte, und im Hinterkopf bohrte die Sehnsucht: mal zu einem „Jamboree“ fahren, zu einem der großen internationalen Pfadfindertreffen im Ausland, mal rauszukommen aus der Enge. Ein Lagerfeuer an Neujahr in einem Steinbruch zwischen Salzburg und Berchtesgaden, das war was, die ganze Umgebung in weißes Licht getaucht.

Erste Mädchen

Andere Berliner Jugendliche träumten damals von Elvis Presley und den Beatles. Kwasigroch schwärmte von einem Zeltlager mit einer katholischen Messe an der Ostsee. Wieder war ein Krieg verloren, die meisten 15-Jährigen hatten genug von Uniformen und dass man ihnen sagt, wo es langgeht. Nicht so die damals schon 100 000 Pfadfinder. „Na klar haben wir geübt, im Gleichschritt zu gehen, weil es einfach besser aussieht, wenn alle in der gleichen Uniform und im gleichen Takt marschieren.“ Und als seine Mitschüler gegen die Moral der Eltern aufbegehrten, hatte Kwasigroch ein ungutes Gefühl. „In den 60ern haben sich die Naturfreunde sexuell betätigt, das hat uns Pfadfindern nicht gefallen.“ Für die Jungs mit Dreieckstuch waren auch damals die Kirche und ihre Moral wegweisend.

Gerhard Kolibaba sieht das genauso. Auch für ihn waren Treue, die Liebe zum Nächsten und zur Wahrheit Tugenden, die sich aus dem Glauben ergaben. Kein Zeltlager ohne sonntäglichen Kirchgang, selbst wenn man dafür zehn Kilometer weit laufen musste. Aber erst in den 50er Jahren wurden aus den katholischen Georgs-Pfadfinder regelrechte Apostel, die in der „Kindschaft Gottes erstrahlen“ und sich abwenden von allem „Körperlich-Triebhaften“ zum Beispiel. So steht es im Handbuch für die Georgs-Pfadfinder von 1952. Sport, Zähneputzen und Waschen standen ebenso im Zeichen der Nachfolge Gottes wie die Grundregeln der ersten Hilfe, denn Gott „schenkt“ Gesundheit, „auf dass man sie fördere.“ Die Fertigkeiten eines Pfadfinders beschränkten sich eben nicht nur darauf, Zelte zu bauen und Lagerfeuer zu machen. Er sollte ein ehrenhafter, gewissenhafter Mensch mit Tischmanieren sein, einer, der außerdem ein gotisches Bauwerk von einem barocken unterscheiden konnte und wusste, wie die deutsche Wirtschaft funktioniert. Er führte einen „Nachweis der Sparsamkeit“ in Form eines Sparbuchs. Wenn er nicht wusste, wo man den Absender auf einem Brief platziert, konnte er auch das in seinem Pfadfinder-Handbuch nachlesen.

1971 entstaubten die Georgs-Pfadfinder ihre Traditionen. Seitdem dürfen Mädchen mitmachen; der religiöse Anspruch wurde durch Sozialpädagogik und politisches Engagement ersetzt. Die Pfadfinder sammelten von nun an für Kinderheime in Afrika, Behinderte in Deutschland und schickten Zelte an Pfadfinder in Israel. Für viele Angehörige dieser verwöhnten Generation war das zu viel des Guten. Die 70er und 80er Jahre waren keine guten Pfadfinderjahre. Seit Anfang der 90er geht es wieder bergauf, was aber nicht an der Wiedervereinigung liegt. Denn die fünf neuen Länder sind immer noch eine Wüste auf der Pfadfinderkarte. Viele Jugendliche wanderten mit ihren Familien ab. Außerdem haben ostdeutsche Eltern Vorbehalte gegen Kluft tragende Mädchen und Jungen.

Feste Spielregeln

Beim St. Dominicus-Stamm haben heute nur die sechs „Jungpfadfinder“ schon nachmittags die khakifarbenen Pfadfinderhosen und -hemden an. Denn heute ist ihre „Übergabe“, das heißt, sie kommen in die nächste Altersstufe. Und da soll es feierlich zugehen. Mit einem Sprung über das Lagerfeuer werden aus den „Jufis“, den Mädchen und Jungen mit blauen Halstüchern, „Pfadfinder“ mit grünen Halstüchern. Am Abend zuvor hatten die 13-Jährigen noch beweisen müssen, dass sie ein Zelt aufbauen können. Je weiter ein Pfadfinder in der Hierarchie nach oben kommt, umso selbstständiger muss er werden und umso mehr Verantwortung muss er übernehmen für die Kleineren.

Die Maßgaben sind klar und auch streng. Trotzdem fühlt sich nicht nur Anna wohl damit, die sich sehr viel in der Kirche engagiert, sondern auch Johann. Er ist wie Anna 17 Jahre alt und Rover. Johann hat die gegelten Haare vorne nach oben gekämmt. Er trägt blaue Cordhosen von der Art, die in den Kniekehlen hängen. Rennen ist damit nicht drin, Johann schlurft. Dazu hat er ein hellblaues T-Shirt an mit „Friedrichshain“-Aufdruck. Er macht viel Musik, fotografiert gern, bearbeitet seine Bilder zu Hause am Computer. Johann findet es klasse, dass die Pfadfinder „was Besonderes machen“. Schlittschuhlaufen zum Beispiel, oder in einer Gruppenstunde durch Neukölln laufen und fotografieren, sich die unterschiedlichen Leute anschauen, die aus der U-Bahn kommen, überlegen, wer warum wo wohnt.

Dafür akzeptiert Johann die Spielregeln, er beschwert sich nicht, dass er Kartoffeln schälen muss und abwaschen, er hält sich ans Alkoholverbot und daran, dass auf dem Zeltplatz nicht geraucht werden darf. Er steht sogar freiwillig sonntags um halb acht auf. Nur ein einziger „Pfadi“ mault mal an diesem Sonntag: „Ich verstehe nicht, warum wir das jetzt den ganzen Tag machen müssen.“ Er kriegt zu hören, dass ein Pfadfinder Pfade geht und keine ausgetretenen Straßen. Viele sagen, dass sie sonst ja eh nur zu Hause „vor der Glotze“ sitzen würden. Einige erzählen auch davon, wie viel sie im Alltag selbst organisieren müssen, das Frühstück und das Mittagessen zum Beispiel, weil die Eltern arbeiten. Und da ist es wahrscheinlich mal ganz entspannend, wenn ihnen jemand sagt, was sie tun und lassen sollen. Denn das letzte Wort haben hier immer die Leiter. Für diesen Sonntag haben sie sich eine Schnitzeljagd überlegt. Da muss man beweisen, dass man Eichen von Buchen unterscheiden kann und sich schnell Wortungetüme wie „Wasserklosettspülbeckenablaufkastenbürstengeruchsvernichter“ einprägen kann. Das stärkt den Teamgeist. Einer allein könnte sich das nicht merken.

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