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Kultur: Als Esma Gebete murmelte

Gott ist der Nothelfer der Dienstmädchen und Köche: Meine frühen Erlebnisse mit der Religion / Von Orhan Pamuk

Bis zu meinem zehnten Lebensjahr hatte ich von Gott eine ganz bestimmte Vorstellung: Es war eine ungeheuer alte, in ein weißes langes Gewand gehüllte ehrwürdige Frauengestalt mit undeutlichem Gesicht. Obwohl sie menschenähnlich war, trat sie anders als meine anderen Fantasiegestalten nicht wie jemand auf, dem ich auf der Straße hätte begegnen können, da sie mit dem Kopf nach unten und noch dazu etwas schief dastand. Wenn ich in einer Mischung aus Neugierde und Ehrfurcht merkte, wie sie sich in meinem Kopf festsetzte, rückten alle anderen Bilder in den Hintergrund, und die Gestalt drehte sich, wie man das manchmal in Werbefilmen oder im Vorspann eines Films sieht, ein paarmal vornehm um sich selbst, wurde dann für kurze Zeit etwas deutlicher und zog sich schließlich dorthin zurück, wo sie hingehörte, nämlich in die Wolken. Der Faltenwurf ihres weißen Gewandes war so tadellos wie bei den Statuen, die ich aus dem Geschichtsbuch kannte. (...)

In unserem Haus hatten nur die Dienstmädchen und die Köche mit dem Wesen zu schaffen. Nun ahnte ich zwar, dass Gott zumindest theoretisch nicht nur die Armen etwas angehen sollte, sondern eigentlich alle Bewohner unseres Hauses, doch waren wir einfach in der glücklichen Lage, ihn nicht zu brauchen. Er war der Nothelfer der Mühseligen und Beladenen, die ihre Kinder nicht auf die Schule schicken konnten, der Bettler, die unablässig seinen Namen im Munde führten, der Aufrichtigen und Guten, die in Bedrängnis waren. Deshalb sagte auch meine Mutter, wenn sie am Radio von eingeschneiten Dörfern oder von Erdbebenopfern hörte: „Möge Gott sie beschützen!“ Darin drückte sich weniger die Hoffnung aus, dieser Wunsch möge in Erfüllung gehen als vielmehr das Bedürfnis, sich über das ungute Gefühl hinwegzuhelfen, dass man selbst seine Schäfchen im Trockenen hatte und diesen Unglücklichen nicht beistehen konnte.

Mit unserer beinharten mathematischen Logik wussten wir ohnehin, dass jenes weißgewandete, sanfte alte Wesen unseren Wünschen kein Gehör schenken würde, denn schließlich taten wir für das Wesen nichts. Unsere Dienstmädchen und Köche und all die anderen einfachen Leute, die wir kannten, ließen dagegen keine Gelegenheit aus, mit den höheren Mächten in Beziehung zu treten, und hielten Jahr für Jahr den Fastenmonat ein.

Unser Dienstmädchen Esma zog sich in jeder freien Minute in ihr Zimmerchen zurück und breitete den Gebetsteppich aus, und wenn irgendetwas sie freute oder ärgerte oder erschreckte oder auch, wenn sie eine Tür auf- oder zumachte oder irgendetwas zum ersten oder letzten Mal tat, und überhaupt bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit murmelte sie etwas zum Lob und Preis des Herrn. (...)

Wenn ich mehr aus Langeweile denn aus Neugierde ihr manchmal beim Beten zusah, überkam mich ein unruhiges Gefühl. Durch den Türspalt sah ich Esma auf dem Gebetsteppich in der gleichen Position wie meine göttliche Erscheinung, nämlich mit dem Kopf nach unten und zur Seite geneigt, und wenn sie sich schwerfällig aufrichtete und dann wieder nach vorne beugte, mit der Stirn den Teppich berührte und in ihren Bewegungen innehielt, kam sie mir vor wie jemand, der unterwürfig flehend seine eigenen Grenzen anerkennt, und aus irgendeinem Grund machte mich das wütend.

Esma betete, wenn sonst niemand zu Hause und keine Arbeit zu tun war, und die Stille, die dann ihr dunkles Zimmer erfüllte und nur ab und zu durch Gebetsgemurmel unterbrochen wurde, ging mir auf die Nerven. Mein Auge fiel auf eine Fliege, die das Fenster hochkroch. Als sie auf den Rücken plumpste und sich wieder aufrappelte, vermischte sich ihr Summen mit Esmas Gemurmel, und ich versuchte, diesem irritierenden Spiel ein Ende zu bereiten, indem ich die Frau am Kopftuch zupfte. (...)

Es ärgerte mich, dass dieser Frau, die mich sonst immer mit Liebkosungen überschüttete und mich auf der Straße gegenüber Fremden, die Gefallen an mir fanden, als ihren „Enkel“ präsentierte, nun dieser Gott plötzlich wichtiger war als ich, so wie auch meine ganze Familie befremdet war, wenn jemand das Religiöse überbetonte. Andererseits nötigte mir Achtung ab, wie unbeirrbar sie ihr Gebet zu Ende brachte, wenn mir auch ihre Verbundenheit mit einem außer unserem Leben stehenden Wesen Furcht einflößte. Es war dies die gleiche Furcht, die seit jeher die laizistische türkische Bourgeoisie plagt: Sie fürchtet nicht Gott, sondern die Wut derer, die zu sehr an ihn glauben. (...)

„Wenn du mich beim Beten am Kopftuch zupfst, wird deine Hand zu Stein!“, sagte Esma etwa. Ich zupfte weiter daran, und nichts wurde zu Stein. Doch wie die Erwachsenen, die zwar an nichts glaubten, sich aber dennoch sagten „Man weiß ja nie“, trieb auch ich mein Spiel nicht zu weit. Dass ich nicht augenblicklich zu Stein wurde, hieß ja noch nicht, dass es nicht morgen passieren könnte. Der gemäßigten Einstellung unseres Haushaltes entsprechend hielt auch ich mich in religiösen Dingen mit meinem Spott zurück und ignorierte die Gottesfurcht der Gläubigen, ohne sie zu verstehen. Ohne darüber ein Wort zu verlieren, führte ich ihren Glauben und ihre religiösen Gepflogenheiten ganz einfach darauf zurück, dass sie arm waren.

Nur weil sie arm waren, mussten sie anscheinend immer wieder Gottes Namen sagen. Aus der Art, in der man bei uns zu Hause über Leute, die fünfmal pro Tag ihr rituelles Gebet verrichteten, genauso herablassend und verwundert sprach wie über jemanden, der aus seinem Dorf frisch in der Großstadt eintraf, konnte ich aber auch den gegenteiligen Schluss ziehen: Vielleicht waren sie arm geblieben, gerade weil sie so sehr an Gott glaubten.

Dass ich mein Bild von dem weißgewandeten, ehrwürdigen Gott nicht weiterentwickelte und in meiner Beziehung zu ihm nicht über ein mit Vorsicht gepaartes Desinteresse hinauskam, lag sicherlich auch daran, dass niemand zu Hause mir in dieser Hinsicht irgendeine Unterweisung gab. Es lebten alle dahin wie französische Bourgeois, die sich von der Religion zwar weitgehend gelöst haben, aber vor einer endgültigen Abrechnung damit dennoch zurückschrecken. Diese Glaubenslosigkeit, die zynisch und prinzipienlos anmuten mag, wurde im Grunde durch den ganz gegensätzlichen Glauben an die moderne, westlich geprägte Republik nach dem Vorbild Atatürks ergänzt, so dass aus unserer seelischen Trägheit heraus bisweilen ein „idealistischer“ Funke aufleuchtete. Es war aber in unserer Familie auch damit nicht sonderlich weit her, und da nichts Tiefgehendes die Religion vollwertig ersetzte, glich bei uns die seelische Landschaft eher einem tristen farnüberwucherten Grundstück, auf dem nur noch Gerümpel lagert, seitdem man die alte Villa darauf erbarmungslos abgerissen hat. (...)

Mein erster Moscheebesuch sollte meine Vorurteile gegenüber der Religion und dem Islam nur noch bestätigen. Als unsere Esma sich eines Nachmittags mit mir allein im Hause langweilte, nahm sie mich mit in die Moschee, ohne meine Eltern um Erlaubnis zu fragen. In der Tesvikiye-Moschee saßen etwa zwanzig bis dreißig Personen zusammen, Dienstmädchen, Köche und Hausmeister, die bei wohlhabenden Herrschaften in Nisantasi angestellt waren, und Besitzer von kleinen Lädchen in den Seitenstraßen des Viertels, und während sie flüsternd auf die offizielle Gebetszeit warteten, hatte ihre Zusammenkunft mehr von einem geselligen Beisammensein als von religiöser Versunkenheit. Als sie dann beteten, lief ich zwischen ihnen umher, spielte in irgendwelchen Ecken der Moschee, und niemand wies mich deswegen zurecht, sondern wie üblich wurde ich sogar freundlich angelächelt. Ich fand mich darin bestätigt, dass Religion etwas für die Armen sei, aber im Gegensatz zu dem, was die Karikaturen in den Zeitungen und der republikanische Geist bei mir zu Hause immer unterstellten, kamen diese frommen Leute mir harmlos vor. (...)

Die kemalistischen Artikel in den Zeitungen, die Karikaturen, die schwarzverhüllte Frauen und bärtige Männer mit Gebetskette darstellten, und die Schulzeremonie zur Erinnerung an den Republikmärtyrer Kubilay vermittelten mir das Gefühl, dass die so unbedarft wirkenden Überzeugungen der religiösen Menschen Ausmaße annehmen konnten, die sowohl uns selbst als auch dem Staat – der doch eher unser Staat war als der ihre – zur Gefahr werden konnten, und so hatte es wohl schon seine Richtigkeit, dass wir die herrschende Klasse waren.

Aus alledem schloss ich messerscharf, dass wir unser „Herrendasein“ nicht in erster Linie unserem Besitztum zu verdanken hatten, sondern der Tatsache, dass wir modern und europäisch waren. Das führte dazu, dass ich Familien, die zwar genauso wohlhabend wie wir, aber weniger verwestlicht waren, zu verachten begann. Als in den folgenden Jahren im Zug einer allmählichen Demokratisierung immer mehr Reiche aus der Provinz nach Istanbul zogen und sich in der „Gesellschaft“ bemerkbar machten, begann sich in unserer Familie, deren Vermögen ja dahinschwand, Unmut zu regen über diese Leute, die oft viel mehr Geld zur Verfügung hatten als wir, aber von westlicher, laizistischer Kultur völlig unbeleckt waren: Wenn wir den materiellen Besitz, der uns nun entglitt, sowie unsere Privilegien und Annehmlichkeiten dadurch verdient hatten, dass wir so westlich waren, wie ließ sich dann der Reichtum dieser Leute erklären, die in weltanschaulichen Dingen oft so dachten wie unsere Chauffeure und Köche (allerdings wusste auch ich damals natürlich noch nichts von Mewlana, den Feinheiten des Sufismus oder der großen persischen Kultur) und die manche Linke sogar auf einen Militärputsch hoffen ließen? (...)

Ein schönes Beispiel für die Zwiespältigkeit unserer Familie im Umgang mit Religion ist die Art, in der bei uns das Opferfest begangen wurde. Wie es sich für einigermaßen gutsituierte Muslime gehörte, wurde zu jedem Opferfest auch im kleinen Hinterhof des Pamuk Apartmani ein Widder angebunden und am Morgen des Festes dort vom Metzger unseres Viertels geschlachtet. Da ich noch nicht einmal für Lämmer etwas übrig hatte, erging es mir keineswegs wie den zartfühlenden jungen Helden mancher Comics, denen bei jedem Mäh des bald zu schlachtenden Opfertiers schier das Herz brach. Ich war sogar froh, das stinkende dumme Tier endlich loszuwerden, aber wenn dann das Fleisch des Widders an Arme verteilt wurde und unsere Familie danach beim von der Religion verbotenen Bier zusammensaß und ein zuvor beim Metzger besorgtes anderes Fleisch verzehrte, weil man an dem frischen Widderfleisch keinen Geschmack fand, dann wurde mir wieder einmal bewusst, dass sich bei uns nicht jeder so viel Schuldgefühl auf das Gewissen lud wie ich.

Während der religiöse Gedanke jenes Festes darin bestand, dass man zum Beweise seiner Gottesfürchtigkeit anstelle eines Kindes ein Tier zum Opfer brachte und dadurch von seinen Schuldgefühlen befreit wurde, aß man bei uns vielmehr anstelle des geschlachteten Tieres ein Fleisch besserer Qualität und machte sich eher noch mehr schuldig. (...)

Mein unbeholfener Umgang mit der Religion hielt mich aber nicht davon ab, mich mit religiösen oder metaphysischen Themen zu befassen. Ich legte mir die Sache so zurecht, dass Gott, wenn er tatsächlich so allwissend war, wie es immer hieß, sehr intelligent sein musste und bestimmt Verständnis dafür hätte, dass ich nicht so an ihn glauben konnte, wie ich wollte. Solange ich meinen Unglauben nur nicht in herausfordernder, aggressiver Weise äußerte, würde Gott mich verstehen, meine Schuldgefühle als mildernde Umstände ansehen und sowieso wegen eines kleinen Kindes wie mir nicht viel Aufhebens machen.

Ich fürchtete also nicht Gott, sondern die Leute, die zu sehr an ihn glaubten, und ihren Zorn auf Leute wie mich. Da die Intelligenz der Strenggläubigen mit der von Gott, den sie so inständig verehrten, nicht zu vergleichen war – allein der Gedanke daran ist schon blasphemisch –, beunruhigte mich ferner ihre Dummheit. Die Angst, sie würden mich eines Tages dafür bestrafen, nicht so zu sein wie sie, war jahrelang mein ständiger Begleiter und spielte wohl auch in meiner frühen Hinwendung zu linkem Gedankengut eine größere Rolle als jedes theoretische Werk. Später wunderte mich dann immer wieder, dass die meisten der laizistischen, westorientierten und mehr oder weniger ungläubigen Istanbuler wegen ihrer Haltung so gar keine Schuldgefühle hegten.

Mit einem Klassenkameraden versuchte ich in der Pause einmal unbeholfen, über solche Themen zu sprechen. Er war der Sohn eines reichen Bauunternehmers, wohnte in einem Traumhaus auf einem Hügel am Bosporus, ritt jeden Tag in seinem riesigen Garten und nahm sogar mit seinem Pferd als Vertreter der Türkei an internationalen Wettbewerben teil. Als dieser kleine Teufelskerl während unserer metaphysischen Diskussion merkte, was für Ängste mich plagten, sah er plötzlich herausfordernd zum Himmel empor und rief aus: „Wenn es ihn gibt, dann soll er mich auf der Stelle niederstrecken!“, und mit erstaunlichem Selbstvertrauen fügte er dann hinzu: „Siehst du, ich lebe noch!“ Und ich fühlte mich wieder schuldig, weil ich einerseits nicht so mutig war wie er, ihm andererseits aber insgeheim recht geben musste. Ohne mir dessen so recht bewusst zu werden, war mir diese Zwiespältigkeit allerdings lieb und teuer.

Ich fürchtete nicht so sehr, mich von Gott zu entfernen, als vielmehr, mich vom Gemeinschaftsgefühl einer ganzen Stadt auszuschließen. Die metaphysische Spannung zwischen den Begriffen Glauben und Zugehörigkeit, die ich als etwas sehr Persönliches erlebte, begann allmählich nachzulassen, als ich ab dem Alter von zwölf Jahren eine neue Quelle der Neugier und der Schuld entdeckte, nämlich die Sexualität. Noch heute aber, wenn ich irgendwo unter Menschen, auf einem Dampfer oder einer Brücke, einer Frau im langen, weißen Gewand begegne, durchfährt mich ein eisiger Schauer.

Wir entnehmen diesen Text in gekürzter Version Pamuks Buch Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt (Aus dem Türkischen von Gerhard Meier, Carl Hanser Verlag, München, 430 S., 200 Abb., 24,90 €.). Es erscheint am 18. November. Mit freundlicher Genehmigung des Hanser Verlags.

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