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Kultur: Als hätte er den Blues eben erst erfunden

In Berlin zeigt sich der legendäre Jazzsaxophonist Archie Shepp von seiner sanften Seite

Archie Shepp schlurft auf die Bühne, abwesend streift sein Blick durch das Publikum im Quasimodo, die Augen im Schatten einer Hutkrempe. Er sieht ganz schön mitgenommen aus. 67 Jahre alt wird Archie Shepp in diesem Monat. Wirkt aber deutlich älter. Auf jeden Fall erfüllt er das Klischee der Jazzlegende. Zufrieden nickend greift er zum Saxophon, stimmt den ersten Ton an, verlangt mehr Hall im Ton.

Es sind ganz ruhige Töne, kaum möchte man glauben, dass hier ein Revolutionär der Free-Jazz-Generation vor einem steht, studierter Literaturwissenschaftler und Kultursoziologe, Universitätsprofessor, ein Pionier des konzeptuellen Jazz, der die Musik von den Einflüssen der Unterhaltungsindustrie befreien wollte. Aber es ist die konsequente Entwicklung der letzten Jahre. Wohin sollte er noch aufbrechen, nachdem er schon in den Sechzigern mit allen musikalischen Formen gebrochen hatte.

Heute gibt er das Barjazz-Programm im Quartett: schlicht, eingängig, versöhnlich, virtuos, keine Frage. Standards von „Ain’t Missbehavin’“ bis „Blue For 52nd Street“. Jazz in seiner Reinform. Fast ist es wieder ein Auflehnen, die musikalische Entwicklung konterkarierend, Jazzblues aus der schwarzen Seele für ein weißes Publikum.

Nur hier und da schimmern ein paar der Elemente des freien Spiels durch, pfeift und quiekt das Sopran wie zu Cecil Taylors Zeiten. Er singt viel, mit warmer, souliger Stimme. Das kommt beim Publikum an, besonders bei den Bluesnummern, gerade wenn dann das Saxophon spratzt und knurrt. Archie Shepp singt und spielt, als hätte er den Blues gerade erst erfunden, schrieb Christian Broecking im Tagesspiegel. Besser kann man es nicht sagen.

Michael Schultheiss

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