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Kultur: Als Lissabon Troja war

Meine Erleuchtung war eine Fernseherleuchtung, vorgestern, kurz nach elf. Portugal–England, Elfmeterschießen.

Meine Erleuchtung war eine Fernseherleuchtung, vorgestern, kurz nach elf. Portugal–England, Elfmeterschießen. In einer Kreuzberger Pizzeria. David Beckham, FußballAchill, tritt an und schießt in den nachtblauen lusitanischen Himmel. Der Schuss geht haushoch über das Tor. ER, der nicht versagen darf, versagt. Schon wieder. Zum zweiten Mal in diesem Turnier. Der Fußball-Achill findet sein Troja in Iberien, Beckham schießt vorbei, fällt.

Und da, die Erleuchtung: Beckham ist kein Gott, kein Drei-Streifen-Roboter. Beckham ist ein Mensch. Und was ich vor dem Spiel nicht für möglich gehalten hätte, Beckham tut mir Leid. Ich empfinde Mitgefühl, Sympathie im eigentlichen Sinne. Niemand, niemand soll mehr sagen, er sei überbezahlt. Für die Schönheit dieses Scheiterns verdient er viel zu wenig. Schon 1998, als er im Spiel gegen Argentinien, am Boden liegend, nachtrat und vom Platz flog, hätte er mir fast Leid getan. Ich glaube, ich hätte auch getreten. Doch so viel Gefühl wie in Lissabon hat er noch nie erzeugt. Dafür ist Fußball da. Meine zweite Erleuchtung, die Antwort auf die Frage, warum ich kaum Mitleid mit der deutschen Mannschaft hatte, blieb leider aus. Die Kreuzberger Italiener jubelten mit den Portugiesen, der Fernseher leuchtete grünlich, weniger blau als sonst.

David Wagner lebt als Autor in Berlin. Zuletzt erschien der Erzählband „Was alles fehlt“ (Piper, München 2002).

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