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Kultur: Altes Spiel

„Ich weiß nicht, woher dieser Starrsinn kommt“: György Konráds Essays „Über Juden“.

Die Massenausrottung der Juden im Zweiten Weltkrieg, die ich nur zufällig überlebt habe, macht mich zum Juden“, schreibt der 1933 in Ostungarn geborene Schriftsteller György Konrád, der im Alter von elf Jahren mit knapper Not und unwahrscheinlich viel Glück dem ungarischen Holocaust entkommen ist. In seiner im Jüdischen Verlag im Suhrkamp-Verlag erschienenen Aufsatzsammlung „Über Juden“ setzt er sich in zwanzig zwischen 1986 und 2010 entstandenen Texten aus unterschiedlichen Perspektiven – biografisch, analytisch, politisch – mit seiner Identität als Jude und Ungar und osteuropäischer Autor auseinander.

Wobei Konrád, der sich als „jüdisch gottgläubigen Heiden“ beschreibt, das Judentum einer einengenden Definition entzieht, indem er dafür drei Bezugspunkte beschreibt: „die Religionsgemeinschaft, Israel und den weltlichen Individualismus. Scheinbar schließen diese Bezugspunkte einander aus, in Wirklichkeit sind sie interdependent und verstärken sich wechselseitig“.

Die Katastrophe des europäischen Judentums sieht er in dessen Staatsgläubigkeit begründet: „Jenes alte Spiel, uns nach und nach aus dem Leben verdrängen zu lassen, stets mit dem Verständnis für diejenigen, die uns daraus verdrängen, werden wir nicht wieder mitspielen.“ Er bekennt sich ausdrücklich zu Israel: „Einen anderen zuverlässigen Schutz als die militärisch garantierte Souveränität gibt es nicht.“ Und er besteht auf dem Recht, sich als Jude von anderen zu unterscheiden: „Denn wenn wir uns von vornherein als Gleiche deklarieren, wird unaufhörlich das Unterschiedliche an die Oberfläche drängen. Setzen wir uns jedoch von vornherein als verschieden, dann wird sich fortwährend das Gemeinsame zeigen.“

Zugleich hält er an seiner Existenz als Diaspora-Jude in Osteuropa fest, die er auch dann nicht preiszugeben bereit ist, als die sozialistische Staatsmacht dem international bekannten Dissidenten, der sich trotz aller Schikanen den Mund nicht verbieten lässt, die freie Ausreise samt Familie anbietet: „Ich weiß nicht, woher dieser Starrsinn kommt, dass ich auf Dauer nicht weit weg von jenem Hauseingang wohnen möchte, vor dem ich fast erschossen worden wäre.“

Er bleibt seiner ungarischen Heimat weiterhin treu, als er Präsident des internationalen PEN-Clubs und der Berliner Akademie der Künste wird. Nach der Wende mit hohen Staatspreisen geehrt, dürfte er kaum damit gerechnet haben, auf seine alten Tage erneut in die Rolle des Staatsfeinds gedrängt zu werden, was sich allerdings bei einer nationalkonservativen Regierung, der „liberal“ als Schimpfwort gilt, fast zwangsläufig ergibt: „Identisch mit sich selbst sind die Juden einzig dann, wenn sie sich an die Prinzipien der liberalen Demokratie halten, denn nach unseren bisherigen Erfahrungen haben allein die liberalen öffentlichen Zustände unsere Lebenssicherheit, unsere angstfreie und erfolgreiche Existenz garantiert.“ Konráds Essays sind eine spannende und lehrreiche Lektüre für jeden, der mehr über das Zustandekommen und den Umgang mit der eigenen Identität erfahren möchte. Stephen Tree











– György Konrád:

Über Juden.

Suhrkamp-Verlag, Berlin 2012. 246 Seiten, 21,95 Euro.

Stephen Tree

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