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Kultur: Altötting ist überall

„Requiem“-Regisseur Hans-Christian Schmid über fromme Katholiken und deutsche Dämonen

Herr Schmid, „Requiem“ spielt im katholischen Süddeutschland. Erzählen Sie da von Ihrer eigenen Kindheit?

Ja und nein. Ich bin in Altötting aufgewachsen, dem bedeutendsten katholischen Wallfahrtsort Deutschlands. Die Stadt hat 10 000 Einwohner und 30 Kirchen, die Geburtsstadt von Papst Benedikt liegt nur zehn Kilometer entfernt. Dennoch erzählt „Requiem“ nicht von meiner Jugend. 1972, bei den Olympischen Spielen, war ich sieben, ich fuhr ein Bonanza-Rad, und wir hatten zu Hause Olympia-Übernachtungsgäste, weil die Betten in München nicht reichten. „Requiem“ ist eher eine Geschichte aus der Jugendzeit meiner Eltern. Was auf dem Kapellplatz in der Gnadenkapelle und der Stiftskirche stattfand, nahm ich eher mit Verwunderung wahr. In meiner Schülerzeitungsredakteurs- und AntiAKW-Zeit wohnte der erste meiner Freunde, der eine eigene Wohnung hatte, in der Bahnhofstraße, die zum Kapellplatz führte. Manchmal stellten wir sonntags eine Box ins Fenster und beschallten die Pilger mit „Sunday, Bloody Sunday“. Das Geduckte des Katholizismus in „Requiem“ gehört zur noch früheren Generation meiner Großeltern.

Wie kamen Sie auf den Stoff von „Requiem“? Der Film basiert ja auf der wahren Geschichte von Anneliese Michel, die nach einer Reihe von Exorzismen an Entkräftung gestorben ist.

Vor zehn Jahren stand im „Spiegel“ eine Reportage über eine Wallfahrt zu Anneliese Michel als einer Art Märtyrerin, einem jungen Mädchen, das Anfang der siebziger Jahre auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Das hat mich berührt. Im Grunde wollte sie ja wahnsinnig wenig, in einer Zeit, in der es große Revolutionsideale gab: Sie wollte nur in Tübingen Sozialpädagogik studieren, bei der Anti-Vietnam-Demo hätte sie bestimmt nicht in der ersten Reihe gestanden. Es gibt nicht mal einen Bösewicht oder einen äußeren Feind. Die ganze Tragödie kommt aus ihr selbst. Sie ist Epileptikerin, und zu diesem Krankheitsbild gehört, dass ihre Ängste sich zu Halluzinationen und zur Psychose steigern. Sie findet niemand, der ihr da heraushelfen könnte, und hat nur die innere Logik des Glaubens, derzufolge sie von Dämonen besessen ist. Das ist im klassischen Sinne tragisch. Das katholische Milieu spielt dabei vielleicht eine ähnliche Rolle wie die Illuminaten in „23“, der Geschichte des Hackers Karl Koch, der glaubt, im Zentrum der Weltverschwörung zu stehen.

Was interessiert Sie so an Menschen, die glauben, besessen zu sein?

Es gehört zu einer bestimmten Art von Kino, dass es sich mit Außenseitern befasst, denen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Das Kino erzählt extreme, intensive Geschichten. Ich versuche etwas, was mich berührt, weiterzuerzählen. Man könnte auch sagen: Alle meine Filme erzählen etwas von Familien. Ich will die Menschen verstehen: die kranke Michaela, aber auch ihre Eltern und den Pfarrer. Das kenne ich aus eigenem Erleben: Wenn die Kluft erst einmal groß genug ist, etwa durch eine Krankheit, können selbst Familienangehörige nicht mehr helfen, auch wenn sie es noch so sehr wollen.

Wie haben Sie sich der Frömmigkeit von Michaela genähert?

Ich kenne Menschen mit unerschütterlichem Glauben und bemühe mich um größtmögliches Ernstnehmen. Das ist nicht einfach, denn es beginnt beim abergläubischen Ablasshandel: 100 Kilometer auf den Knien nach Altötting ist mehr wert als 150 Kilometer im Bus. Gegen Ende meines Studiums an der Münchner Filmhochschule begann ich mich dafür zu interessieren. Für die Dokumentation „Die Mechanik des Wunders“ filmte ich mit meinem Team ab 4 Uhr morgens an der Straße von Regensburg nach Altötting die Fußwallfahrt, die jedes Jahr stattfindet. 7000 Menschen pilgern in einem 5 Kilometer langen Zug im Morgengrauen nach Altötting. Das hat uns ergriffen, auch wenn es nichts mit uns oder dem, was in unserem Leben wichtig war, zu tun hatte. Und es führt bis zu einer feinen Empfindsamkeit für Dinge, die nicht unbedingt rational erfassbar sind. Michaela kann das Kreuz nicht mehr berühren – so eine Szene kippt schnell ins Lächerliche.

Die frühen siebziger Jahre: Was war das für eine Zeit?

Auf dem Land und in der Provinz lebten die Leute noch mit vielen Überbleibseln aus den fünfziger und sechziger Jahren. Wir, das heißt der Drehbuchautor Bernd Lange, der Szenenbildner Christian Goldbeck und der Kameramann Bogumil Godfrejow, haben das Jahr deshalb nicht genau benannt. Wir wollten die Zeit beiläufig erzählen. Wenn also ein Oldtimer von seinem Besitzer ans Set gefahren wurde, haben wir das Auto nicht chromblitzend ins Bild gestellt, sondern mit einem Schmutzfilm überzogen und so platziert, dass nur das Heck ins Bild ragt. Die Autobesitzer waren entsetzt.

Dennoch ist Ihr Film sehr genau verortet. Wer damals aufgewachsen ist, erinnert sich sofort an Details.

Ein toller Fund war das Studentenwohnheim in Tübingen, das gibt es unverändert seit den späten Sechzigern: der Teppich, die Wände, die Etagenküche, alles ist genau wie damals. Als wir zur Motivbesichtigung kamen, hingen im Vorraum gerade fünf Typen rum, und ich hatte sofort das Gefühl: Ja, so war das wohl damals. So setzt man sich Erinnerung zusammen, aus Erzählungen, Filmen, Musik, Klamotten oder auch einem Ikea-Katalog von damals. In einem Polizeiarchiv in Tübingen fand der Ausstatter eine Diaserie von den Straßenzügen Tübingens, auf der mögliche Fluchtwege für Demonstranten festgehalten waren. Sofort hat man eine Vorstellung von Tübingen in den Siebzigern.

Anfang der Siebziger hatte die Radikalisierung der Studentenbewegung schon begonnen. Ist „Requiem“ auch ein Zeitbild der Bundesrepublik in den Jahren vor dem deutschen Herbst?

Wir waren uns bewusst, dass Michaela eine Zeitgenossin von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Holger Meins war. Aber im Uni-Milieu gehörte sie eher zum Bibelkreis als zum Politzirkel, ihre Welt ist beschaulicher. Dennoch gibt es eine Zeitgenossenschaft. Dabei spielt eine Rolle, dass die Unruhe von ’68 außerhalb der Großstädte, also der Zentren der Studentenbewegung, nur sehr gedämpft wahrgenommen wurde.

„Requiem“ lief auf der Berlinale als einer von vier deutschen Wettbewerbs-Beiträgen, neben Oskar Roehlers „Elementarteilchen“, Matthias Glasners „Der freie Wille“ und Valeska Grisebachs „Sehnsucht“. Vier ernste Stoffe, vier Reisen in den Tod. Was ist los mit den deutschen Filmemachern?

Der deutsche Film hat eine große Vielfalt entwickelt und wendet sich wie das Weltkino ernsten und politischen Kontexten zu. Aber ich scheue davor zurück, das gesellschaftspolitisch einzuordnen nach dem Motto: Die Spaßgesellschaft ist vorbei. Die Chance des Kinos liegt in Stoffen, die das Fernsehen nicht zur Primetime zeigt. Wobei die Kinobetreiber lieber Arthouse light mögen, Filme wie „Sommer vorm Balkon“. Aber wenn man auf den komödiantischen Ansatz verzichtet, bleibt es schwer, ein größeres Publikum zu erreichen, die Leinwände dafür sind hart umkämpft. Ich wünsche mir, dass solche Filme auch ohne comic relief mehr als 60 000 oder 70 000 Zuschauer finden. Mich interessieren die Leute, die Michael Hanekes „Caché“ oder die Filme der Dardenne-Brüder sehen und nicht einfach nur einen netten Abend haben wollen.

Das Gespräch führte Christiane Peitz.

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