zum Hauptinhalt

Kultur: Am Bauch des Kanzlers

Baustellen faszinieren sie, sagt Irene Moessinger, als sie vor dem gut drei Meter hohen Stahlzaun mit den wehrhaften Spitzen steht.Der Zaun sichert eine Baustelle, die sich wie ein dicker Bauch aus dem Tiergarten gegen die umgeleitete Entlastungsstraße drückt.

Baustellen faszinieren sie, sagt Irene Moessinger, als sie vor dem gut drei Meter hohen Stahlzaun mit den wehrhaften Spitzen steht.Der Zaun sichert eine Baustelle, die sich wie ein dicker Bauch aus dem Tiergarten gegen die umgeleitete Entlastungsstraße drückt.Man könnte ins Sinnieren geraten, ob nicht das ganze Leben, wie der bekannte Filmtitel sagt, eine Baustelle ist.Doch das Gebäude, das auf der anderen Seite des Zauns entsteht, soll alles andere werden als eine Huldigung an die unberechenbaren Seiten der Existenz.Hier will sich die Macht ein Monument setzen.Irene Moessinger und das Tempodrom sind dabei im Wege.Das Zirkuszelt, in dem seit 19 Jahren Rock, Pop, Jazz, Kabarett, Theater, Performance, Akrobatik zu Hause sind und das allein mit dem Weltmusik-Festival "Heimatklänge" 100 000 Zuschauer anzieht, ist unerwünscht in der Nachbarschaft des Kanzleramts.Seit sechs Jahren hören Irene Moessinger und ihre Mitarbeiter, daß sie und ihr Zirkuszelt "weg müssen".Ein langsamer, qualvoller Abschied.Vorgestern ist mal wieder ein Ultimatum abgelaufen.Bis Mittwoch sollte das Tempodrom das letzte Bundesangebot annehmen.Wenn nicht, dann wolle Kultursenator Radunski das Räumungsverfahren weiter vorantreiben.Das Tempodrom-Team fordert acht Millionen Umzugsentschädigung.Beinah so lang wie der Kanzlerbau wird auch ein neues Tempodrom geplant.Nachdem das Geplänkel diverser kleingeistiger Bezirksverwaltungen beendet war und der Standort, am Anhalter Bahnhof, beschlossen wurde, steht nun ein Entwurf fest, der 32 Millionen Mark kosten soll.Darin einkalkuliert hat das Tempodrom-Team auch die ursprünglich diskutierte Summe von acht Millionen Mark.Die jetzt gebotenen vier Millionen sind vier zuwenig.Die Finanzierung würde platzen."Jeder Mensch weiß, daß man mit Ultimaten nichts erreicht", sagt Irene Moessinger am Telefon zu einem der vielen Journalisten, die heute anrufen - nicht nur weil der Konflikt immer für eine Story gut ist, sondern auch weil das Tempodrom in Berlin viele Sympathisanten hat.Der Kabarettist Arnulf Rating hat einen Kontakt zum Bundesfinanzminister hergestellt.Nun soll erneut verhandelt werden.Neben dem Schreibtisch stehen Papiersonnenblumen, darüber hängen zwei Fotos des Dalai Lama.Während draußen der Soundcheck für das Konzert von Steve Riley & The Mamou Playboys beginnt, vibriert gelegentlich der Boden des Zirkuswagens: draußen rangieren schwere Lkw.Mittlerweile ist das Gelände von Liefer- und Handwerksfahrzeugen umzingelt wie das gallische Dorf bei Asterix von Römern.Die Chefin läßt sich davon nicht irritieren.Sie ist entschlossen, nicht zu weichen.

Als die Krankenschwester Irene Moessinger vor 20 Jahren 500 000 Mark von ihrem Vater erbte und davon ein Zirkuszelt kaufte, lag die Berliner Off-Kultur noch im Schlummer.Heute - und das will die offizielle Kulturpolitik nicht erkennen - ist das, was einmal "Off" war, der Mainstream."Off" ist heute eigentlich die elitäre bildungsbürgerlich-akademische Hochkultur, die mit absurden Zuschüssen am Leben gehalten wird.Dies zu erkennen, mag schwer sein für Bonner Ministerialbeamte und ihre lokalen Statthalter, die auf des Kanzlers "Leuchttürme" fixiert sind und so in Berliner Biotopen einigen Flurschaden verursachen.Lieber drei Opernhäuser durchfüttern als dem BKA entgegenzukommen, phantasmagorische Summen für Prachtbauten und Hauptstadtumzug ausgeben, aber wegen vier Millionen Mark herumknickern, wenn es darum geht, eine vom Publikum angenommene Spielstätte zu erhalten, die ohne Subventionen auskommt.Da wäre nicht nur eine Umzugs-, sondern auch eine Unmutsentschädigung angemessen.

Irene Moessinger könnte "sich auch ganz andere Dinge vorstellen" als den Betrieb des Tempodroms, sagt sie, mit jener berlinischen Färbung im Tonfall, die nur bei Menschen charmant klingt, die hier geboren wurden.Sie könnte jetzt erzählen, daß schon ihre Vorfahren Baumeister waren, die die Zitadelle Spandau erbaut haben.Sie könnte von den 20 Menschen sprechen, die auf dem Gelände in Zirkuswagen wohnen, von den Dutzenden anderer Mitarbeiter - oder von ihrer Freundin Nina Hagen, die dort sogar gemeldet ist.Sie könnte.Aber sie spricht von Verantwortung.Verantwortung gegenüber dem Publikum, dem "Forum" und den "Möglichkeiten", die das Tempodrom bedeutet.Gäbe es heute in Berlin ein so ausgeprägtes Verständnis für Weltmusik, eine derart blühende Kleinkunstszene, wenn nicht diese fröhliche wie hartnäckige Frau das getan hätte, was Voraussetzung für jede wirklich gute Idee ist: einen Traum in die Realität herüberzuholen, statt an Zinsen, Eigenheim oder Aktien zu denken? Alpträume müssen eigentlich nur jene Politiker haben, die versuchen, das Tempodrom auf die Schnelle beiseite zu schieben.Schon öfter hat sich gezeigt, zu welcher Solidarität die Berliner zwischen Kreuzberg und Zehlendorf, zwischen Westend und Marzahn fähig sind.Architekten arbeiten, Musiker spielen, Akrobaten jonglieren gratis, das Publikum spendet Geld, wenn es um den beliebtesten Berliner Veranstaltungsort geht.Der würde nach dem Umzug nicht mehr der alte sein, sondern ein anderer, neuer Traum.Daß die Zeit der lauschigen Sommernächte im Tiergarten der Vergangenheit angehört, ist ohnehin klar.Hinter der abgeklärten Ruhe, mit der Irene Moessinger und ihre Verbündeten ihr Ziel verfolgen, wird auch die Bereitschaft spürbar zu kämpfen: Wegen möglicher Räumungsmaßnahmen fällt der geplante Betriebsausflug ins Elbsandsteingebirge aus, verkündet ein Zettel am Bürowagen."Notfalls", sagt Irene Moessinger, "spielen wir auch den Winter durch." Wer diesen Willen brechen will, muß sich warm anziehen.

RALPH GEISENHANSLÜKE

Zur Startseite