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André Schmitz: Was die Straßen erzählen

Bitte keine Puppenstuben! Ein Plädoyer für lebendige Erinnerungsräume - Aus der Rede zur Ausstellungseröffnung, die Berlins Kulturstaatssekretär André Schmitz am Mittwoch um 19 Uhr im Stadtmuseum halten wird.

Wie soll die Zukunft des Areals vor dem Roten Rathaus aussehen? Eine Frage, die Politiker, Stadtplaner, Architekten, Bürger und Gäste der Stadt gleichermaßen bewegen muss, geht es bei der inneren Mitte Berlins doch um einen das Erscheinungsbild der Stadt maßgeblich prägenden Ort. Spricht das Gelände zwischen Rotem Rathaus, Alexanderplatz, Karl-LiebknechtStraße und dem künftigen Humboldt-Forum wirklich in seiner jetzigen Form für das facettenreiche Berlin?

Viele Bürger erleben das aktuelle Zentrum Berlins als horror vacui, als tabula rasa von Kriegsfolgen und ideologischer Plattmacherei. Andere würdigen den Gestaltungswillen der DDR-Planer, eine moderne weiträumige Metropole zu entwickeln. Wenn aber Zukunftsvisionen entworfen werden, überschlägt sich die Fantasie. Beim Brainstorming 2010, beauftragt von meiner Kollegin, der Senatsbaudirektorin Regula Lüscher, gab es den berüchtigten Badewannen-Vorschlag – und andere Ideen, die suggerieren, das Herz der Stadt müsse radikal neu erfunden werden. Der Architekt Bernd Albers kritisierte, hier werde der „sowieso schon leere Raum“ noch weiter entleert. Als bekennender Romantiker des 21. Jahrhunderts möchte ich keine Mondlandschaft, sondern eine Stadt, die mir von sich erzählt.

Es geht nicht darum, Alt-Heidelberg zu rekonstruieren, sondern um eine Vorstellung von Berlin, die über ihre Funktionalität, Strukturraster, Fassadenführung, Verkehrslenkung und architektonische Ästhetik hinausgeht. Namen der Viertel von gestern sind verbunden mit Personen, die dort lebten und wirkten. Gerade sie erzählen von unserer Stadt.

Das legendäre Berlin in unseren Köpfen mag die expandierende Metropole des 19. und 20. Jahrhunderts sein. Diese scheinbar vertrauten Großstadt-Konturen hängen jedoch zusammen mit vorherigen Geschichten der noch früheren Stadt. Auch hier begegnen uns Personen, auch sie geben Berlin ein Gesicht.

Vielleicht war es Zufall, dass die einst wenig angesehene Rosenstraße, vormals Huren-Quartier, später Synagogen-Standort, von den City-Planierungen der Nachkriegszeit nicht weggewischt wurde. Heute – nachdem die Zivilcourage jener Frauen, die hier 1943 ihre jüdischen Ehemänner vor der Deportation retteten, zu einer herausragenden Widerstandsüberlieferung geworden ist – käme die Ausradierung der Straße oder die Änderung ihres Namens einer Negation des Gedenkortes gleich. Kein Stadtplaner würde sich das momentan trauen.

Anders ist es der Bischofstraße ergangen, deren Namen auf episkopale Amtswohnungen zurückgeht, die auf dem Terrain der heutigen Fernsehturm-Umbauung lagen. Diese Straße nahe dem heutigen Standort des Neptun-Brunnens hatte bei ihrer Beseitigung 1969 keine Lobby. Dabei stand hier die Seidenmanufaktur des Philosophen Moses Mendelssohn, im 19. Jahrhundert gab es zwei jüdische Schulen und eine Talmud-Thora-Schule, noch in den 1930er Jahren hatten zahlreiche jüdische Textilfirmen hier ihren Sitz.

Die kirchlich-kulturellen Hintergründe für einen Quartiersnamen, der den Heiligen Geist oder St. Marien zitiert, mögen uns fremd geworden sein. Die Biografien ehemaliger Bewohner hingegen sprechen uns an. Zum Heilig-GeistViertel gehört die Burgstraße, in der im 18. Jahrhundert das Palais des Hoffinanziers Daniel Itzig stand, später die Börse; im 19. Jahrhundert lebte Theodor Fontane zeitweise hier sowie der Maler Max Liebermann.

Besonders deutlich zeigt sich am Anwohner-Personal der 700 Meter langen Spandauer Straße, wie Geschichten der letzten Jahrhunderte in unsere Gegenwart übergehen. Im Haus Nr. 40, ehemals Apotheke zum „Weißen Schwan“, arbeiteten der Chemiker Martin Heinrich Klaproth und später der Lehrling Fontane. In dieser Straße wurde Rahel Varnhagen geboren, Giacomo Meyerbeer wuchs hier auf, Henriette Herz führte einen Salon, die Schokoladenfirma Hildebrand expandierte, die Dichter Gleim, Kleist und Ramler hatten hier ihre Wohnung.

Einen Schnittpunkt und Fokus bildete das Haus Nr. 33 – heute die Freifläche Nr. 68 an der Ecke Karl-Liebknecht-Straße –, in dem sich die Ursprünge des Berliner Pressewesens, der Berliner Aufklärung und der deutsch-jüdischen Geschichte berührten. Hier logierten der Publizist und Aufklärer Christlob Mylius und sein Cousin Lessing sowie der Verleger Nicolai. Danach lebte in Nr. 33 / 68 deren Freund Moses Mendelssohn mit seiner Familie, welcher wiederum Ratsuchende und Freunde aus vielen Milieus und Konfessionen empfing. Ich bin sehr dafür, an dieses einzigartige Haus der Aufklärung mit einem Denkmal zu erinnern, das der Bildhauer Micha Ullman gestalten soll.

An wen erinnern uns Berlins Steine? Die Antwort darauf dürfen wir nicht dem Zufall überlassen. Wir brauchen keine historisierenden Puppenstuben, sondern lebendige Erinnerungsräume. Das geht nur in der Verbindung mit Wohnen, Gewerbe und öffentlichen Begegnungsräumen. Die Aufmarschplätze des vergangenen Jahrhunderts überfordern das Individuum und das Kollektiv. Urbanes Leben braucht offene Räume mit der Option geschützter Kommunikation. Dabei geht es nicht um die Reproduktion historischer Parzellen oder Schnörkel, sondern um jene kritische Rekonstruktion der alten Mitte, die aus der Inspiration vormaliger Strukturen moderne Dramaturgie und adäquate Formen entwickelt. Ein solches bereits realisiertes Experiment in einem anderen Quartier – das Projekt der Stadthäuser am Friedrichswerder – provoziert zwar weitere Fragen, wirkt aber ermutigend.

Lassen wir uns herausfordern, die alte Stadt neu zu lesen – oder wird die Festplatte City radikal neu formatiert? Wir sollten an die vergessene Mitte erinnern, ohne Romantisierung und falsche Idylle. Und ohne soziale Exklusion. Hier in Mitte, wo die Interessen schon immer schmerzhaft aufeinandergestoßen sind, schlug das Herz Berlins. Dieses Herz der Stadt ist keine Leerstelle. Erst recht keine, die mit Wasser gefüllt werden müsste.

Aus der Rede zur Ausstellungseröffnung, die Berlins Kulturstaatssekretär André Schmitz am heutigen Mittwoch um 19 Uhr im Stadtmuseum halten wird.

André Schmitz

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