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Resonanzraumforscher. Andreas Schaerer.

© oto: Reto Andreoli/Promo

Andreas Schaerer im Interview: Die Magie des Mundes

Über Jazz, Neue Musik und das Komponieren des Orchesterwerks „The Big Wig“: ein Gespräch mit dem Stimmkünstler Andreas Schaerer.

Von Gregor Dotzauer

Unter seinem halben Dutzend musikalischer Projekte ist das mit seinem Sextett Hildegard Lernt Fliegen das bekannteste. Der Schweizer Andreas Schaerer, 1976 in Visp geboren, ist einer der vielseitigsten und originellsten Jazzsänger und Komponisten seiner Generation. Beatboxing, Scatting, Falsettgirlanden, Geräuschtiraden – keine Technik ist ihm fremd. Sein erster Ausflug ins Sinfonische, das soeben erschienene CD/DVD-Doppel „The Big Wig“, ist seine erste Arbeit für das Münchner Label ACT. Am 19. Mai führt er das Werk mit dem Filmorchester Babelsberg im Potsdamer Nikolaisaal auf.

Herr Schaerer, Sie genießen den zweifelhaften Ruf eines Stimmakrobaten. Wo hört für Sie der Zirkus auf und fängt die Musik an?

Ich würde mich tatsächlich nie als Stimmakrobaten bezeichnen. Das hat etwas Sportliches, das mich in der Musik nicht interessiert. Und ich will auch nicht komisch sein. Doch sobald man seine Stimme rein instrumental einsetzt, bringt das manche zum Lachen.

Dafür geben Sie Ihren imitatorischen Fähigkeiten aber viel Raum. Ihre Posaune zum Beispiel, die Sie live auch gestisch vorführen, ist beeindruckend.

Ja, aber auf Imitation kommt es mir nicht an. Ich nehme mir nicht vor, jetzt will ich klingen wie ein Helikopter und jetzt wie ein Feuerwehrauto. Wenn man ohne Phonetik singt, also ohne klar definierte Vokale und Konsonanten, gibt es nur begrenzte Möglichkeiten. Ich will phrasieren wie ein Posaunist, ich will ein Vibrato erzeugen und Luft und Ton stufenlos mischen. Das geht nur, indem ich meine Zunge nutze wie ein Blechbläser und meine geschlossenen Lippen als Mundstück verwende.

Das konnte man erst vor Kurzem in der Berliner Philharmonie hören, wo Sie unter dem Motto „Alpen-Jazz“ ein umjubeltes Konzert mit ihrem Schweizer Landsmann, dem jodelnden Sänger Christian Zehnder, gegeben haben. Was bedeutet Ihnen Ihre Herkunft in Bezug auf die Musik?

Geografisch wenig. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob es eine besondere Schweizer Handschrift in der improvisierten Musik gibt. Aber im norwegischen Jazz etwa scheint mir viel eher eine gemeinsame Temperatur zu herrschen. Ich bin im Wallis mit seiner Bergwelt geboren worden, auf dem Land aufgewachsen und habe meine Teenagerjahre im Emmental verbracht. Diese Weite und Energie haben mich natürlich geprägt.

Von authentischer Volksmusik war beim „Alpen-Jazz“ auch wenig zu hören, mehr von einer Art imaginärer Folklore. Béla Bartók hat diesen Begriff geprägt, bevor ihm Jazzer wie Louis Sclavis, Michael Riessler oder Gianluigi Trovesi eine neue Bedeutung gaben. Wie verhält sich die erfundene zur tatsächlichen Volksmusik?

Als Kind und Jugendlicher war ich von volkstümlicher Musik und ihrem Umfeld abgestoßen. Sie wirkte bieder und abgestanden auf mich. Heute gibt es wieder Strömungen, die diese Musik ungeschliffener, ja archaischer präsentieren. Die Naturtonreihe, die es beim Jodeln oder im Alphorn gibt, ist eigentlich eine Form von Jazz, weil sie regelrechte blue notes enthält. Christian Zehnder hat sich mit traditionellen Jodlern ausgetauscht. Ich funktioniere eher wie ein Schwamm, der alles aufsaugt, was ihn umgibt. Wenn man das, was wir an diesem Abend versucht haben, folklore imaginaire nennt, trifft das die Sache aber ganz gut.

Mit „The Big Wig“ präsentieren Sie nun eine sechssätzige Suite für großes Orchester und Ihre Band Hildegard Lernt Fliegen ein Auftragswerk des Lucerne Festivals voller perkussiver Überraschungen, krummer Rhythmen und ironischer Momente. Wie muss man sich das halbe Jahr vorstellen, das Sie mit Komponieren verbracht haben?

Ehrlich gesagt, ziemlich chaotisch. Es war eine Mischung aus Studieren, Forschen und Komponieren, Furcht und Euphorie. Ich habe ja Jazzkomposition studiert, und wir haben uns auch mit Streichern auseinandergesetzt, aber vor allem für Bigbands geschrieben. Viele Instrumente waren für mich neu. Samuel Adlers Standardwerk „The Study of Orchestration“ hat mir da enorm geholfen. Einmal im Monat bin ich mit einem befreundeten Geiger die Partitur durchgegangen, eine Harfenistin hat die Spielbarkeit ihres Parts geprüft.

Hatten Sie eine Vorstellung von der Gesamtstruktur?

Ich habe mich mit einem Klavier, einer Geige und einem großen Screen, auf dem sich alle Stimmen darstellen ließen, in einem Kulturzentrum eingemietet und langsam die Fühler ausgestreckt. Anfangs ging es darum, möglichst viele Ideen zu gebären. Ich muss dafür in einen Zustand der Dünnhäutigkeit kommen, in dem ich empfänglich werde. Einzelne Melodiefragmente und harmonische Abfolgen sind entstanden. Oder ich habe, wie für „Wig Alert“, Mundperkussionsexperimente angestellt, sie aufgenommen, transkribiert und schließlich für das Orchester adaptiert. Bei anderen Stücken wie „If Two Colossuses“ begann es mit einer Textidee. Irgendwann befand ich mich tief in einem inspirierenden Sumpf.

Zeitgenössische Musik als Neuland

Viele komponierende Jazzer, darunter auch Sie, beziehen sich gerne auf Strawinsky, Bartók oder Ligeti, aber kaum je auf ihre Altersgenossen, sagen wir Hans Abrahamsen, Unsuk Chin oder Dai Fujikura. Sind Jazz und Neue Musik doch getrennte Welten geblieben?

Für mich ist die zeitgenössische Musik tatsächlich Neuland. Wo Sie aber von Unsuk Chin sprechen: Ich war bei den Proben zur Luzerner Uraufführung von Chins „Le Silence des Sirènes“ mit der Sopranistin Barbara Hannigan. Eine Wucht, auch weil ihre Musik eine ungekünstelte, körperliche Qualität hat. Fasziniert hat mich zuletzt eine sinfonische Uraufführung meines Landsmannes Dieter Ammann. Aber gerade in meinem Jazzumfeld glauben manche nur zu gerne, etwas völlig Neues, ungeheuer Freches und Mutiges geschaffen zu haben, während ihnen die Neue Musik bei der Überschreitung von Hörerwartungen um Lichtjahre voraus ist.

Nicht einmal die Entwicklungsstränge des Jazzgesangs kreuzen sich wirklich. Oder sehen Sie, dass der traditionelle Ansatz von Ella Fitzgerald, Mel Tormé und heute vielleicht Kurt Elling, den avantgardistischen von Shelley Hirsch oder Phil Minton berührt und unterwegs die Effekte von Al Jarreau und Bobby McFerrin aufliest?

Wenn man all die Sänger, die Sie gerade genannt haben, gleichzeitig auf die Bühne bringen würde, dann könnte man, wenn man mit geschlossenen Augen zuhört, die Übergänge vielleicht hinbekommen. Ella beginnt zu scatten, McFerrin macht es ein bisschen abstrakter und überlasst Phil Minton dann die ganze Spannweite. Aber Sie haben recht: All diese Sänger bewegen sich vor allem in ihren eigenen Gefilden. Als Gegenbeispiel fällt mir Mike Patton ein. Der war bei Faith No More, hat Lionel-Richie-Cover gesungen, MTV rauf und runter, Metal gemacht und frei Improvisiertes mit John Zorn. Eine unglaubliche Palette.

Und Sie? Haben Sie auch ein Herz für das ganz normale Lied?

Ich höre viel songhafte Musik, ich singe sie auch gerne. Nach zehn Jahren, in denen ich vor allem freie Musik gemacht habe, bekomme ich allmählich Lust auf Reduktion und Einfachheit. Das wird man sicher auch bald hören.

Sänger sind in sehr viel größerer Gefahr, indisponiert zu sein, als Handarbeiter. Führen Sie ein besonders vorsichtiges Leben?

Überhaupt nicht. Ich bin kein exzessiver Mensch, wenn es um Genussmittel geht. Aber ich schlafe wenig. Ich bin viel auf Tournee und muss früh zum Flieger. Und im Moment habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Stress mit meiner Stimme. Nach zwei Erkältungen war sie komplett weg und erholt sich jetzt nicht in dem Tempo, wie sie es sollte. Ich inhaliere aber fleißig und trinke jede Menge Tee. In den nächsten Wochen sollte sich das also wieder richten.

Bei Drummern oder Gitarristen gab es in den letzten zehn, zwanzig Jahren eine ungeahnte Explosion technischer Möglichkeiten. Was ist für die Stimme noch drin?

Ziemlich viel. Ich unterrichte seit einigen Jahren an der Berner Hochschule, und die Studierenden kommen heute mit einem Stimmumfang, einer Kontrolle und einer Virtuosität an, die sich früher erst noch entwickeln musste. Gerade im Grenzgebiet von Stimme und Elektronik findet ungeheuer viel statt. Man muss sich nur mal einen Abend lang durch YouTube klicken, um die Vielfalt zu sehen. Und dann gibt es Sängerinnen wie Lalah Hathaway, die nie gehörte Spaltklänge hervorbringen.

Sie sprechen von „Something“, der Aufnahme mit Snarky Puppy …

Ja, wie da Tendenzen aus dem mongolischen Obertongesang mit dem Soul verschmelzen, wie Popsängerinnen auch Geräuschhaftes können, das alles ist nicht mehr nur eine Schiene. Auch das sehe ich bei meinen Studenten. Durch das Internet steht ihnen alles sofort zur Verfügung. Der Horizont ist von vornherein weiter. Wir sagten uns vor zwanzig Jahren eher, jetzt ziehen wir uns Charlie Parker rein. Der war dann für eine Weile unser Guru, der nächste war dann Wayne Shorter und so weiter. Heute sind die Gurus breiter gestreut. Insofern leben wir doch in einer Zeit der Öffnung.

Das Gespräch führte Gregor Dotzauer

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