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In den Berliner Abendblättern", die Heinrich von Kleist vom 1. Oktober 1810 bis zum 30. März 1811 täglich herausgab, war die Anekdote als Kunstform reich vertreten. Reproduktion einer Illustration des Dichters von Peter Friedel, die Kleist 1801 für seine Verlobte Wilhelmine von Zenge anfertigen ließ.

© Wikipedia

Anekdote als Kunstform: Eigensinn und Hang zur Herde

Die "Zeitschrift für Ideengeschichte" hat Gelehrte aus aller Welt um Anekdoten aus dem akademischen Umfeld gebeten. Die 30 eingesandten Texte sind so überraschend wie die Überlegungen zur Form dieser gefährdeten Gattung.

Von Gregor Dotzauer

Anekdoten aus gelehrtem Munde versprechen für sich genommen wenig Bemerkenswertes. Man sollte erwarten, dass Kioskverkäufer, Briefträger, Unfallärzte oder Pfarrer, kurz Leute, die tagtäglich mit der ganzen Vielgestaltigkeit des Menschenzoos konfrontiert sind, sehr viel mehr Seltsames erleben als hochmögende Professoren, die mindestens ein Vorzimmer vor den ärgsten Zumutungen des Alltags schützt. Obwohl die 30 Texte, die nun die „Zeitschrift für Ideengeschichte“ (Herbst 2014, 128 S., 12,90 €) versammelt, fast immer da am stärksten sind, wo sie das akademische Feld verlassen, liegen dieser Annahme doch gleich mehrere Irrtümer zugrunde. Der Glaube, es komme auf den konkreten Vorfall an, ist so abwegig wie das Zutrauen in Details, die für sich selber sprechen mögen. Nein, schon die nichtigste Szene – Kleist beweist’s – kann einen Anlass liefern, und sie zu erzählen, ist eine Kunst, die oft erst im Geschriebenen bedeutsam wird: durch Ausschmückung, durch geschickte Vorbereitung der Pointe – und womöglich durchs stillschweigende Nachdenken darüber, was das Anekdotenhafte ausmacht.

Es handelt sich also um alles andere als „Kleine Formlosigkeiten“, wie das Motto lautet, sondern um höchst formbewusste Miniaturen, denen ihr jeweiliger Stoff die Physiognomie diktiert. Charakteristisch für die faits divers, die dabei aufgegriffen werden, sind, wie es in der Einleitung heißt, „radikaler Eigensinn und Beharren auf der Einzigartigkeit des Überlieferten bei gleichzeitigem Hang zur Herde, zum Eingehen in die Vielzahl“. Nichts Abgründigeres als die Erinnerung der Historikerin Suzanne Marchand an den Hurrikan Katrina, der mangels funktionierender Kommunikationssysteme – Telefonnetz wie Rundfunk und Fernsehen waren zusammengebrochen – eine Flut von Gerüchten entstehen ließ, in denen von Massenplünderungen, Morden und Vergewaltigungen die Rede war. Ein Moment der Ratlosigkeit, der sie ahnen ließ, wie es einst in Gesellschaften zuging, die Nachrichten ebenso mühevoll zusammentragen mussten wie in dieser Ausnahmesituation.

Der Philosoph Gabriel Motzkin erweitert eine Schlüsselerfahrung des 20-Jährigen zum Denkbild, indem er berichtet, wie ihn schlagartig das Bewusstsein für die Nähe vergangener Jahrhunderte ereilte, als er in Paris den 89-jährigen Sinologen Roger Lévy besuchte, der in seiner Jugend wiederum jemandem begegnet war, der Napoleon noch mit eigenen Augen gesehen hatte. Bei dieser Gelegenheit fällt ihm auch die gegenteilige Erfahrung einer einschneidenden Distanz zum Hier und Jetzt wieder ein: eine Begegnung mit Martin Buber, der beim Besuch der heute in Ost-Jerusalem liegenden Quelle Silwan eine Erfahrung von unaussprechlicher Überzeitlichkeit machte.

Kaum etwas verbindet die beiden Texte – außer dass sie eine Kürze in Anspruch nehmen, deren Angemessenheit in der Blitzartigkeit der darin gefassten Erkenntnisse liegt. Keine Ausführlichkeit und keine Systematik könnte ihnen zu größerer Tiefe verhelfen. Recht eigentlich erfüllen sie aber nicht einmal die Kriterien, die Gottfried Gabriel – in einem von vier Aufsätzen zur Poetologie der Gattung – aufstellt: „Die Anekdote ist dem ursprünglich griechischen Wortsinn nach (anékdotos = nicht herausgegeben) eine mündliche Überlieferung, die in erster Linie dem ,Klatsch’, dem Weiterzählen ,hinter vorgehaltener Hand’ zuzurechnen ist.“ Und: „Ist die Welt (mit Wittgenstein gesprochen) ,alles, was der Fall ist’, so ist die Anekdote alles, was der humorig nachdenkliche Fall ist.“

In diese Richtung geht schon eher Stanley Corngolds Bericht aus Heidelberger Jahren, als ihm ein Unbekannter auf den Kopf zusagte: „Da geht er, der Jude!“. Die Sache lässt sich rational, wenngleich nicht ohne philosophische Pointe, aufklären, wohingegen die Wendung, die 1996 der geplante Aufstand der „FAZ“-Feuilletonisten gegen ihren Herausgeber Frank Schirrmacher nahm, eine ebenso komische wie mythische Dimension hat. Hoch über dem Rhein, am Niederwalddenkmal, berichtet Ulrich Raulff, habe ein Vogel dem zu stürzenden Cäsaren im Beisein aller zur Rebellion Entschlossenen auf die Schulter geschissen. Das „Götterzeichen“ zeigte Wirkung. Schon am Abend war von Meuterei keine Rede mehr.

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