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Kultur: Angst verleiht Flügel

Morgen beginnt der Marathon: Friedrich Schirmer, neuer Chef des Schauspielhauses Hamburg, über Aufbrüche und Antriebe

Herr Schirmer, wie wird man eigentlich Intendant?

Mein Weg am Theater war ein Selbstausbildungsweg. Ich war Schauspieler, Dramaturg, Regisseur, habe Operndisposition gelernt, alles durch Learning by Doing. Mein großer Bruder, der Verleger Lothar Schirmer, hat mal gesagt: Weißt du, wir sind frühe Spätentwickler. Ich: Wie meinst du das? Und er sagte: Relativ früh haben wir gewusst, was und wohin wir wollen und haben dann lange gebraucht, bis wir ans Machen und Gestalten kamen.

Ihre Biografie sieht aber ganz anders aus. Gleich nach dem Abitur gingen Sie ans Theater in Castrop-Rauxel, dann an die Freie Volksbühne Berlin, und bereits mit fünfundzwanzig übernahmen Sie eine Leitungsfunktion in Nürnberg.

Mit fünfundzwanzig habe ich kommissarisch sehr gut ein Theater geleitet in einer Notsituation, aber danach habe ich wieder einen Schritt zur Seite machen müssen, einen Ausbildungsschritt. Mit fünfundzwanzig ist man ja sehr ungeduldig.

Sie haben kurz nach der Entscheidung für Hamburg am Köln-Marathon teilgenommen. Wie haben Sie das geschafft?

Nach zwei Kilometern haben mir schon die Füße wehgetan. Die Belastung, wenn Sie vier Stunden unterwegs sind und wissen, da sind immer noch fünfzehn Kilometer zu bewältigen, ist der absolute Hammer. Aber ich bin mental stolz, dass ich das geschafft habe. Als ich drei Kilometer hinter mir hatte, hat mich die Vorstellung, jetzt noch neununddreißig Kilometer laufen zu müssen, fast an den Rand der Aufgabe gebracht.

Wieso haben Sie weitergemacht?

Ich habe gedacht, wer am 1. Oktober 2003 leichtfertig in Hamburg unterschreiben kann, der soll sich jetzt nicht vor diesem Marathon drücken. Für mich war die Theaterwelt im Sommer 2003 verteilt. Matthias Hartmann geht nach Hamburg, Wilfried Schulz geht nach Zürich, aus, fertig. Und was ich mache, weiß ich nicht. Dann ging Hartmann nach Zürich, und es kam das Angebot aus Hamburg. Ich dachte, was bei dem Marathon passiert zwischen Kilometer 32 und 42, entspricht vielleicht dem, was da in Hamburg zu tun ist, und ich wollte das hinkriegen. Dass ich das geschafft habe, zwar in keiner berauschenden Zeit, aber losgelaufen und angekommen! Für einen kurzen Moment war ich im Vorraum des Eigentlichen. Bei Kilometer 32, zwischen 30 und 32, da sind Sie so voller körpereigener Drogen, da denken Sie, Sie können fliegen. Und von Kilometer 32 bis 42 wird es wirklich unglaublich schwer, da will man mogeln, wo war denn jetzt das Schild, es muss doch schon Kilometer 35 sein, nein, du bist erst bei 33, und alles tut weh.

Sie waren als Jugendlicher ziemlich dick und wollten Schauspieler werden.

Ich war dick und beweglich! Wenn man Schauspieler werden will, ist das ja ganz wunderbar, dick und beweglich wie ein Gummiball. Schauspieler wurden ja nach Gewicht bezahlt. Günther Strack, den ich sehr verehre, das war ein ganz zarter Mensch. Der hat sich das angefressen.

Wollten Sie nicht den jugendlichen Liebhaber spielen?

Nö, die anderen Rollen, Komiker, ich weiß nicht, was ich spielen wollte. Den Traum vom Spielen hab ich nach acht Wochen am Westfälischen Landestheater selber beerdigt. Es gab damals, 1970, in Deutschland drei Hospitanten. Zwei an der Schaubühne, das waren Renate Klett und Michael Propfe, die kriegten keinen Pfennig, und es gab mich in Castrop-Rauxel, und ich kriegte immerhin 150 Mark im Monat.

Was wollen Sie jetzt in Hamburg machen, neben dem erfolgreichen Thalia Theater?

Uli Khuon, der Thalia-Intendant, und ich werden konkurrieren wie zwei Brüder. Ich werde meinen eigenen Weg gehen, das ist ein Prozess, da gibt es keine Rezeptur. Da gibt es nichts, was ich ankündigen kann, Sie können Theater erst im Nachhinein werten, einordnen. Hermann Beil hat mir 1992 artig zur Intendanz in Stuttgart gratuliert und dann drohend gesagt: Machen Sie’s ja gut, Stuttgart war unsere glücklichste Zeit. Ich verdutzt: Nicht Bochum, nicht Wien? Sagt er: Nein, Stuttgart.

Das ist aber sehr lang her. Der Langstreckenläufer Peymann läuft jetzt auch am Berliner Ensemble eine Art Marathon.

Wenn Sie Stuttgarter Bilder von damals sehen, die Peymann-Five, wie jung die da waren, wie fröhlich, wie dynamisch, die sahen aus wie eine Popgruppe, die zwei Hits gelandet haben und die genau wissen, wir haben noch das Potenzial für zehn Dinger. So sahen die nie wieder aus. Und da hab ich gedacht, Moment mal! Hier in Stuttgart muss ich neu nachdenken, meine Gegenwart leben, meine theatralische Gegenwart. Und vor zwei Jahren dämmerte es mir langsam, dass das in Stuttgart zu Ende geht. Ich wusste eigentlich im Sommer 2003, wenn ich Stuttgart noch mal verlängere, wird es genau die Verlängerung zu viel. Es gibt einen Text von Moondog: „Ich bin dies, ich bin das, ich bin mal alt, ich bin mal jung“. Das trifft es genau.

Muss man am Hamburger Schauspielhaus immer noch gegen diesen Gründgens-Faust-Mythos anspielen oder haben Frank Baumbauer und Christoph Marthaler den Gründgensfluch mit „Wurzel aus Faust 1 + 2“ endgültig vertrieben?

Vor einem halben Jahr bin ich hinter das Familiengeheimnis gekommen: Gründgens ist ja nicht freiwillig gegangen. Da gab’s nach einer erfolgreichen Ära einen gewissen Überdruss, besonders in der kritischen Öffentlichkeit, dass bei diesem Gründgenstheater in den Spielzeiten fünf und sechs eine gewisse Stagnation auf sehr hohem Niveau sich nicht verleugnen ließ. Und Gründgens hat hingeschmissen, über Nacht, und ist geflohen, nach Manila. Und das hat er nicht überlebt. Das war allen aber ganz schrecklich peinlich. Er sollte weg, aber sterben sollte er nicht. Sterben nicht, natürlich. Und was macht man in so einer Situation: Man überhöht den Toten. Man stellt ihn auf einen Katafalk.

Sie packen die grassierende Theaterunlust an den Wurzeln und installieren im Haus ein Kinder- und Jugendtheater, das Junge Schauspielhaus!

Hamburg ist so groß, da gibt es noch wirklich viele Kinder. Und an dieser Idee, noch einen künstlerischen Partner zu haben, hab ich mich festgebissen und hab Klaus Schumacher vom Bremer Jugendtheater angerufen, ob er nicht Lust hätte, das mit mir zu machen, und er hat ohne zu zögern Ja gesagt. Das ist eigentlich ganz großartig, jemanden zu haben, mit dem ich das Haus teilen kann, einen zweiten künstlerischen Leiter, der auch inszeniert, der diese kleine Kompagnie hat, zum gemeinsam Sorgenteilen und der gleichzeitig ein zweiter Motor ist. Der uns vorantreibt. Das fand ich eine richtige Idee für dieses Haus, für dieses monströse Deutsche Schauspielhaus.

Die Kraft der zwei Herzen?

Ja, zwei Herzen. Und wenn das eine verzagt wird und im Dunkeln nicht mehr richtig schlagen mag, ist das andere dann da. Dass auch Kinder tagsüber in dieses Haus kommen, nicht nur zum Familienstück. Darauf freue ich mich, und damit fangen wir eigentlich an, am 23. September, das wird die Eröffnung. Er wird ein großes Stück machen zum Thema Afrika für Kinder und Jugendliche ab zwölf. „Mutter Afrika“ von Ad de Bont, das ist der große holländische Autor fürs Kinder- und Jugendtheater. Sich diesem vergessenen oder in Vergessenheit geratenen Kontinent Afrika über ein Kinder- und Jugendstück zu nähern, finde ich klasse. Und dann fangen wir am nächsten Tag mit unserer Eröffnung an, mit „Die Frau vom Meer“.

Wovor haben Sie am meisten Angst?

Im Moment habe ich gar keine Angst. Das Theater hat mich vor 35 Jahren in seine Dienst genommen, das wird mir schon sagen, wann ich aus seinen Diensten entlassen bin. Dann werde ich auch gehen. Diese 21 Jahre, die ich habe Intendant sein dürfen, das war eine so glückliche Zeit, die kann mir niemand nehmen. Da man aber ein paradoxes Wesen ist, bin ich natürlich bis oben hin angefüllt mit Versagensängsten. Aber ich habe gelernt, die Kraft, die in der Angst steckt, anzuzapfen, das Potenzial zu nützen und mich nicht lähmen zu lassen. Wie Heiner Müller sagte: Angstzentrum gleich Kraftzentrum. Oder wie man bei „Asterix und den Normannen“ nachlesen kann: Sagt ein Normanne zu einem Gallier: „Mach! mir! Angst!“ Zittert der Gallier: „Wwieso sssoll ich dddir Aaangst machen, ihr seid doch die fürchterlichsten Krieger der Welt?“ Antwort: „Angst verleiht Flügel, ich will fliegen!“ Deshalb braucht man die Angst. Als Antrieb.

Das Gespräch führte Ulrike Kahle.

Nach zwölf Jahren Intendanz am Staatsschauspiel Stuttgart spielt

Friedrich Schirmer (Foto: Staatstheater Stuttgart) ganz vorn mit, in der ersten Liga neben den Theatern in Berlin, München, Wien und Zürich. Schirmer ist neuer Intendant des Deutschen Schauspielhauses Hamburg, der größten Sprechbühne des Landes. Sein Vorgänger Tom Stromberg hatte nach erheblichen Anlaufschwierigkeiten zuletzt großen Erfolg.

Schirmer, 53, hat am Theater in allen möglichen Berufen gearbeitet. Gemeinsam mit seiner Frau Marie Zimmermann leitete er in diesem Sommer das Festival Theater der Welt in Stuttgart.

Mit Ibsens „Frau vom Meer“ in der Regie von Jacqueline Kornmüller eröffnet Schirmer am Sonnabend die neue Spielzeit. Im Oktober folgt „Mephisto“ nach dem Roman von Klaus Mann: auch eine Beschäftigung mit Gustaf Gründgens , dem Übervater des Deutschen Schauspielhauses Hamburg. Sebastian Nübling wird Hans Henny Jahnns „Die Krönung Richards III.“ inszenieren.

Schirmer ist passionierter Läufer. Das neue Emblem das Schauspielhauses zeigt allerdings kein erdverbundenes, sondern, passend für Hamburg, ein maritimes Motiv: einen hochspringenden Delphin.

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