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Kultur: "Angst vor Gesichtsröte": Der gerissene rote Faden

"Was passiert, wenn eine Frau nicht begehrt wird?" Die Frage ist keineswegs Aufmacher eines einschlägigen Frauenmagazins.

"Was passiert, wenn eine Frau nicht begehrt wird?" Die Frage ist keineswegs Aufmacher eines einschlägigen Frauenmagazins. Die Künstlerin Birgit Brenner stellt sie in einer Zeichnung. Wollfransen verdecken Satzfragmente, die mit antiquierten Schrifttypen getippt sind. Unter der strengen, roten Horizontale tut sich bestürzende Leere auf. Der schmale Strich wird zur Zensur, vereitelt den Blick auf das Geschehene und legt sich über mögliche Tatmotive. Ein wortwörtlicher roter Faden zieht sich durch die gesamte Ausstellung: Als Nähgarn taucht er in den installativ angeordneten Zeichnungen auf, mäandert als gedruckte Endlosschleife über die Künstlertapete oder legt als Wollfaden auf Fotos eine Blutspur zu den Körper-Perforationen von Gina Pane. Brenner bietet Puzzleteile einer fiktiven Geschichte und regt so die kriminalistische Neugierde des Betrachters an. Er wird Mitwisser in einer Angelegenheit, von der noch gar nicht klar ist, ob es sich überhaupt um einen Fall handelt.

"Erzählen Sie weiter!" nennt Brenner den nunmehr achten Akt ihrer 1999 begonnenen Serie "Angst vor Gesichtsröte". Rund dreißig kleine Assemblagen zeichnen Fallstudien alltäglicher, katastrophischer Momente nach. Anstelle von Zeichenstift und Feder setzt Brenner Collagetechniken, maschinengetippte Lineaturen und Worte oder genähte Architekturgrundrisse ein. Das verleiht den sparsam strukturierten Blättern (je 800 Mark) eine Materialpoesie, die mit minimalen Zeichen eine lyrisch dichte Ausdruckskraft entwickelt und trotz der maschinellen Hilfsmittel nichts vom spontanen Charme der Zeichnung vermissen lässt. Selbst die Installation auf der Galeriewand behält den zeichnerisch-skriptualen Charakter bei. In kindlicher Schönschrift prangen sechs Meter "ICH" auf der Wand, unterlegt mit dem ornamenthaft roten Faden. Doch die Selbstbezüglichkeit täuscht, ebenso wie das riesenhafte Personalpronomen die exaltierte Sicherheit nur behauptet. Wortspiele und Satzkonturen, Skizzen eines "Freistehenden Einfamilienhauses" und eines wohlgeordneten Suizids sind Fragmente für eine weiblichen Charakterstudie, die Brenner mit wissenschaftlicher Sorgfalt erforscht. Ein psychiatrisches Gutachten und Augenzeugenberichte übersetzt die 1964 geborene Künstlerin in Fotografien, Installationen und die subtilen, tagebuchartigen Notate - eine erfrischende Variante der Konkreten Poesie. Während die zwei Digitalfotografien (je 9000 Mark) eher plakativ geraten sind, mischen die zeichnerischen Annäherungen scheinbare Banalitäten mit wissenschaftlichem Spürsinn. Literarische Konnotationen stehen neben Kontaktanzeigen, fotografische Reminiszenzen an die Aktionskunst fügen sich in die minimalistische Formensprache ein. Dieses Geflecht aus künstlerischen Transformationen und neurologischen Studien bewegt sich mit dem stets abreißenden Faden inmitten des Diskurses um nicht-lineare Wissenschaften, der momentan auch Einzug in aktuelle Kunstdebatten hält.

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