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Kultur: Ankern verboten

Wachgeküsst: Das Festival „Theater der Welt“ verwandelt Stuttgart in eine Hafenstadt

Stuttgarts Mitte leuchtet, bunt sind die Parkbäume angestrahlt im Schlossgarten, auf dem Vieleckensee ein Steg, eine Plattform mit kleiner Bühne und Bar, der sonst öde Garten des Württembergischen Kunstvereins ist Hafenbar mit heftig begehrten Liegestühlen, von denen aus man Neues Schloss, Parlament, Oper, Schauspielhaus durch die Bäume spüren kann. Warum ist Stuttgart nicht immer so? Mit beherztem Zugriff hat Festivaldirektorin Marie Zimmermann Orte erobert für das „Theater der Welt“. Und geholfen, neue Orte zu schaffen: ein Künstlerdorf im Stadtteil Berg, italienisch anmutend mit seinen klar gegliederten Bauten um eine Piazza, dahinter, an den Berg gelehnt, sanftfarbige spitzgiebelige Neubauten im Stil des ursprünglichen Mühlenviertels – eine Initiative des Vereins Berger Bürger und der gemeinnützigen Stiftung Nestwerk. Und ein kleines Wunder: Zwölf Monate dauerte es nur von der ersten Idee bis zum Einzug der Künstler. Die Stadt Stuttgart kann durchaus unbürokratisch sein, wenn sich Nutzen, öffentliche Breitenwirkung und ein wenig Kunst verbinden. Nach den Künstlern werden Alleinerziehende und Menschen Fünzig plus hier einziehen.

Wie belebend ein Theaterfestival sein kann, ist nach den ersten vier Nächten und Tagen aufs schönste bewiesen. Mit hoffentlich langfristigen Folgen, damit Stuttgart seinen schwäbisch selbstgenügsamen Dornröschenschlummer endlich abschüttelt und auftrumpft mit seinen kulturellen Schätzen, dem neuen Kunstmuseum, der Staatsoper, seiner hochkarätigen Ingenieur- und Architektenszene mit Altstars wie Günther Behnisch und Frei Otto, mit neuen Stars wie Werner Sobek.

Die Auswahl von Marie Zimmermann, vorübergehend beurlaubte Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen und ihres künstlerischen Leiters und Ehemanns, Intendant im Übergang von Stuttgart nach Hamburg, Friedrich Schirmer, meidet das Spektakuläre. So eine verhaltene Eröffnung wie mit „Paradise“ von der Gruppe MAU muss man erst mal wagen. Die Künstler, alle von verschiedenen südpazifischen Inseln stammend, zeigen unter der Regie von Lemi Ponifasio aus Samoa und Neuseeland einen schwermütigen Traum vom Paradies und seiner Zerstörung durch Napalmbomben und Krieg, ein- und ausgeleitet mit Worten der Freundschaft. Körperbilder in Weiß und Schwarz, die aus tiefem Dunkel heraus leuchten, tierische, urzeitmenschliche Bewegungen, Rituale, sehr langsam, sehr sparsam, sehr fremd, sehr schön.

Auf ihrer „furchtlosen Entdeckungsfahrt“ nach landes- und ortstypischem Theater, Tanz, Performance, Installationen als Gegensetzung zu globaler Gleichschaltung fand Marie Zimmermann ihr Leitmotiv: „Heimweh nach der Zukunft“. Wir haben keine Heimat mehr, kommen nirgendwo an, sind ständig im Aufbruch, Richtung Zukunft. In Indien und Ägypten sind Vergangenheit und Zukunft nahe Verwandte, denen man immer wieder begegnet, in einer Kreisbewegung. Bewegung ist das Stichwort, Transfer, Aus- und Einwanderung. Verlockend schöne Fotos einer Schiffsreise von Stuttgart nach New York und das Schild „Ankern verboten“ sind optische Kennung von „Theater der Welt“ in Stuttgart.

Ein Zug auf Gleis 1a im Hauptbahnhof. Ein langer Zug, mit 40 Fernsehern, mit 40 Menschen, die reden, singen, schweigen. Aus der Barackensiedlung Küba in Istanbul. Dort haben sich Migranten, Flüchtlinge, Kriminelle, Oppositionelle, Kurden, Syrer, Iraner und Iraker eine Stadt in der Stadt geschaffen, mit eigenen Regeln. Der türkische Filmemacher und Installationskünstler Kutlug Ataman hat zwei Jahre Gespräche auf Video dokumentiert. Jetzt sitzen diese Menschen per Fernseher im Zug, drei in einem Abteil. Ein halbwüchsiges Mädchen, das sich um die Rückenschmerzen seiner Mutter sorgt und auf der Straße mit Vorliebe andere schlägt, „I beat them up!“ Ein Kaffeehausbesitzer, der um seinen Laden kämpft und von der Solidarität in Küba schwärmt, ein tapferes kleines Mädchen, das von der Stiefmutter geschlagen wird. Ein Mann, der großen Kummer hat. Der einfach erzählt, von seinem Leben, man hört gebannt, wartet auf die Ursache des Kummers. Sein ältester Sohn starb bei einem Raubüberfall. Menschenleben. Die Installation „Küba“ gibt jedem Einzelnen die Würde, die ihm gebührt. Der Zug fährt nicht ab, er wird die 26 Festivaltage lang dort stehen.

Und Theater? Nach der Reise zum mehr als Seemeilen fernen „Paradise“ geht es senkrecht in Herz und Hirn des weißen Mittelstands, mit zwei Stuttgarter Koproduktionen. „Faces“ im Depot nach dem Film von John Cassavetes elektrisiert durch verblüffende Raum- und Toneffekte. Die Zuschauer lagern zu dritt auf 30 Doppelbetten, die elf Schauspieler spielen in den Gängen und zwei leeren Betten dazwischen, kämpfen um den Ausbruch aus ihrem verkorksten Mittelstandsleben, als wären sie allein. Regie führt der Belgier Ivo von Hove. Sex, Lügen, Voyeure – intensiv, intim, mitreißend, der Text manchmal allerdings etwas abgestanden, eben Sechziger Jahre.

Dagegen „VIRUS!“ – ein kompiliertes Stück zur Zeit, das aktueller, treffender nicht sein könnte. Im Schauspielhaus umkreisen Regisseur Sebastian Nübling und sein furioses Team aus Basel und Stuttgart das Ineinander von Eigenem und Fremden, ausgehend von Dionysos, dem Gott, der einen neuen Glauben mitbringt, ausgehend von der Gewalt der Viren. Wie Krankheiten, Ideologien, fremde Worte und Gedanken von uns Besitz ergreifen, wie unser Ich ganz und gar zersplittert ist, aus Fremdem zusammengesetzt, wie wir selbst Fremdes und Eigenes nicht mehr unterscheiden können, das fasst Nübling in körperbetonte, komische und beklemmende Bilder.

Auch der Stuttgarter Hafen erlebt eine Infiltration: Amphibienfahrzeuge kreuzen, Chöre singen auf Schiffen, Flössen, Kränen. Orlando Gough und Tom Ryser ließen mit „Singing River“ Bagger wippen, Kräne schaukeln und 700 Sänger aus Schwaben und aus London singen: schwul, koreanisch, schwäbisch, südafrikanisch. Noch viel wird folgen, aus Japan, Indien, Russland, USA, aus England und aus Schwaben. 31 Ensembles aus 19 Ländern an 16 Spielorten können Stuttgart nicht in ein Paradies verwandeln, auch nicht zur Hafenstadt machen, aber mit einem kräftigen Theaterkuss wachküssen. Zumindest bis zum 10. Juli.

Theater der Welt 2005 dauert bis zum 10. Juli. Karten unter Tel.0711/20 20 90. Informationen unter www.theaterderwelt.de

Ulrike Kahle

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