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Buchcover zu Annika Reichs "Die Nächste auf ihrer Seite".

© Verlag / promo

Annika Reich: Roman „Die Nächte auf ihrer Seite“: Kinder fressen Liebe auf

Leidenschaft hat keine Zukunft: Annika Reich hat mit „Die Nächte auf ihrer Seite“ mehr als einen Roman über eine Amour Fou geschrieben. Ihr geht es um die Unmöglichkeit der Liebe überhaupt.

Aus dem Fenster eines Berliner Hinterhauses heraus filmt eine nicht mehr ganz junge Frau Paare. Diese passieren auf dem Weg zum Paartherapeuten den Innenhof; nach dem Ende der Sitzung sind sie gelöst oder aufgelöst. Die Frau mit der Kamera ist Ada, Mutter der neunjährigen Fanny, alleinerziehend, beschäftigt in der Off-Theaterszene, gelegentlich für Werbefilmchen gebucht. Ihr Lebensprojekt aber ist dies hier, der verzweifelte Überlebenskampf der Liebe, denn zwischen Auftritt und Abtritt der Pärchen im Hof lässt Ada wieder und wieder ihre Beziehung zu Farid, dem Vater ihrer Tochter, Revue passieren.

Nach dem Aufwachsen in einem kleinbürgerlichen bundesrepublikanischen Haushalt hatte Ada sich nach Berlin verdrückt, wo sie Farid kennenlernte. Von der Magie, die anfänglich zwischen ihnen geherrscht haben muss, erfährt man als Leser nur beiläufig. Die Geburt der Tochter blies die Flamme der Leidenschaft aus, die fantasievollen Liebeleien wichen dem „kreatürlichen Drang, der sich ihrer bemächtigte, der mit ihnen persönlich nichts zu tun hatte“. Gegen die Trennung stemmen sich Farid und Ada noch immer wie gegen eine dritte Kraft. Doch Erfolg ist nicht in Sicht.

Mehr als ein Roman über eine Amour Fou

Mit „Die Nächte auf ihrer Seite“ hat die Berliner Schriftstellerin Annika Reich mehr als nur einen Roman über eine Amour Fou geschrieben. Ihr geht es um die Unmöglichkeit der Liebe überhaupt. Nicht nur knüpft Reich die Paartherapie leitmotivisch in ihren Text ein, sie spiegelt die Einzelgängerexistenzen ihres Romans zusätzlich in deren Eltern, die mehr oder weniger glücklich ihre Zweierbeziehungen durch die Jahre gebracht haben.

Vielleicht möchte Reich aber auch noch etwas ganz anderes – und dabei bekommt ihr Roman Probleme. Denn Adas Konflikt, das doppelt schwierige Entlieben mit Kind, ist nicht die einzige Baustelle von „Die Nächte auf ihrer Seite“. Da ist noch Sira, Farids jüngere Schwester, die auf Familienbesuch als „Deutsche mit ägyptischer Sommer-Identität“ in die Wirren der Revolutionsbewegung gerät. Über weite Strecken wähnt man diese junge Frau als zweite Hauptfigur, folgt ihr durch die tränengastrübe Luft des Tahrir-Platzes oder auf die Hennaparty ihrer Lieblingscousine.

Annika Reich hat zu viele originelle Ideen

Leider versandet dieser Erzählstrang im Verlauf des Romans: Sira rutscht ins zweite Glied, als Teil der Off-Regietruppe um Ada. Deren Projekt wiederum macht Reich gegen Ende immer stärker, was so gar nicht zu den Ägyptenausflügen passen mag. Es scheint, als wollte Reich zu viele, an sich originelle Ideen in ihren Roman mitaufnehmen. Ihr Wille, poetischen Überschuss zu produzieren, zeigt sich auf jeder Seite, wodurch die eigentliche Geschichte überladen wird.

Wirklich gelungen ist daher nur der dritte, zwanglos erzählte Romanstrang. Ada, Sira, Olaf, der Regisseur, und die Beleuchterin Regina besuchen die Eltern aller Beteiligten, um Filmmaterial für ein Theaterstück zu sammeln. Diesem liegt eine an Schlingensief erinnernde Poetik heilender Selbstentblößung zugrunde. Passenderweise decken die vier Elternhäuser stellvertretend sämtliche Habitate ab, aus denen sich das heutige Berlin – ach was: Deutschland – zusammensetzt: den selbstgerechten Westen bei Adas Eltern, die gebildeten Migranten bei ihren ehemaligen Schwiegereltern, dazu lebensfrohe Wendeverlierer in Leipzig und bierbefeuerter White Trash im Berlin jenseits des S-Bahn-Rings.

Figuren protestieren gegen ihre Rollen

Hier streicht Reich nicht über jede Passage eine Bedeutungsschwere, hier protestieren Figuren gegen ihre Rollen, entstehen überhaupt große Momente. Form und Inhalt ergänzen sich in diesen Passagen gut, ohne dass sie über die vielen formalistischen Spielereien und erzählerischen Sackgassen dieses Romans hinwegtäuschen können.

Annika Reich: Die Nächte auf ihrer Seite. Roman. Hanser Verlag, München 2015. 224 Seiten, 18,90 €.

Moritz Scheper

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