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In der Sprache der Museumsleute ist dies bald ein materielles Erbe der Vergangenheit.

© dpa

Anschlag in Berlin: Wir sind so frei - und unverschämt

Authentisch, transparent, post-privacy-mäßig: Das schlägt Scham, Takt, Verzicht. Deshalb wird der Lastwagen vom Breitscheidplatz bald in einem Museum stehen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wir sind so frei. Gezeigt wird alles. In Huntsville im US-Bundesstaat Texas steht das „Texas Prison Museum“. Dort kann der Besucher die Geschichte der Todesstrafe erkunden. Mit „Ol’ Sparky“, dem elektrischen Stuhl, einem Strick aus frühen Zeiten, dem Fallbeil, Injektionsnadeln. Im Museumsshop wird ein Kochbuch mit den Rezepten der beliebtesten Henkersmahlzeiten verkauft. Die heißen „Gas Chamber Chicken“, „Last Wish Fish“, Guillotine Goulash“. So ist das hier. Der Wirklichkeit schämt sich keiner.

Muss man sich der Wirklichkeit schämen? Sie verstecken, gar verheimlichen? Im Haus der Geschichte in Bonn denkt man darüber nach, einen Teil des Lastwagens vom Attentat auf dem Breitscheidplatz auszustellen. Zwölf Menschen sind dabei vor zwei Wochen ermordet worden. Natürlich würde man – aus Respekt vor den Angehörigen – einen zeitlichen Abstand wahren, heißt es. Aber man sei halt zuständig für die Überlieferung des materiellen Erbes der Vergangenheit. Dazu zählen bereits ein Flächenschussgerät der RAF und die Kölner Nagelbombe des NSU. Warum nicht auch die Tatwaffe von Anis Amri?

Es fällt leicht, darauf zynisch zu reagieren. Sich Kaugummi kauende Teenies vorzustellen, wie sie vor dem Lastwagen Selfies machen. Oder eine Gruppe von Salafisten, die dort auf Arabisch Koransuren rezitieren. Möglich ist alles. Überall.

Auch Ground Zero wird umfassend dokumentiert

Im Gulag-Museum in Moskau stehen Nachbauten einer Gefangenenbaracke, einer Arrestzelle und eines Wachturms. Das Auschwitz-Museum hat soeben für das Jahr 2016 mit über zwei Millionen Menschen einen neuen Besucherrekord gemeldet. Originalobjekte der ehemaligen Lager Auschwitz I und Auschwitz II- Birkenau können besichtigt werden, die Gaskammern in Birkenau, die Eisenbahnrampe, das Massengrab.

Auch Ground Zero wird umfassend dokumentiert, ob durch ineinander verschmolzene Pistolen, verkohlte Pässe, Zeichnungen von Kindern, die am 11. September 2001 Vater oder Mutter verloren hatten. Bei einer der ersten Ausstellungen in New York wurden Besucher, die das wünschten, noch psychologisch betreut. Die katholische Hilfsorganisation „World Trade Center Healing Services“ bot ihre Dienste bei Retraumatisierungserfahrungen an. Doch die Zeit vergeht. Gnadenlos. Als ein halbes Jahr nach 9/11 der zweistündige Dokumentarfilm „9/11“ im Fernsehen ausgestrahlt werden sollte, liefen Angehörige von getöteten Feuerwehrleuten noch Sturm dagegen. Heute haben die Gemüter sich beruhigt, die meisten Wunden sind vernarbt.

Wenn nicht heute, dann morgen, wenn nicht morgen, dann übermorgen. Irgendwann wird der Lastwagen vom Breitscheidplatz in einem Museum stehen. Authentisch, transparent, post-privacy-mäßig: Das schlägt Scham, Takt, Verzicht.

„Ich bin, der ich bin“, sagt Gott zu Moses und fordert für sich Bild- und Namenlosigkeit ein. Es ist eine Absage an die Verdinglichung. In seinem Essay „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ deutet Sigmund Freud dies als „eine Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung, einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“. Und als „eine der wichtigsten Etappen auf dem Wege der Menschwerdung“.

Museen sind das Gegenteil. Sie beleben die Sinne und gängeln die Fantasie. Vielleicht gibt es für den Lastwagen vom Breitscheidplatz keinen besseren Ort.

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